Psychotherapie Viele warten zu lange auf Hilfe

Berlin · Der Gang zum Psychotherapeuten ist für viele Menschen mit seelischen Problemen schwierig. Nach einer Umfrage der Stiftung Warentest versucht die Mehrzahl ihre Probleme mindestens ein Jahr lang unter Kontrolle zu bekommen, bevor sie sich therapeutische Hilfe holen. Denn auf die wartet man lange, teils mit verheerenden Folgen.

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Foto: dpa, Yuri Arcurs, Pascoe

Depressionen und Ängste sind es, die mit 79 bzw. 64 Prozent an Spitze der psychischen Erkrankungen stehen. Unabhängig von der Schwere entschieden sich 83 Prozent der Betroffenen für eine ambulante Therapie. Laut Umfrage der Stiftung Warentest unter 4.000 Menschen mit seelischen Problemen sehen knapp 80 Prozent der Befragten in Psychotherapie eine große Hilfe.

Bezeichneten zu Beginn der Therapie noch 77 Prozent ihr Leiden als "sehr groß" oder "groß", so waren es nach Abschluss der Behandlung 13 Prozent. 61 Prozent der Befragten fiel der Umgang mit dem alltäglichen Stress nach der Behandlung leichter.

Glücklich können sie sich schätzen, denn sie haben einen Therapieplatz ergattert. In Deutschland wartet man viel zu lange auf einen ambulanten Therapieplatz. Drei Monate sind es im Schnitt, die ins Land ziehen, bevor psychisch kranke Menschen ihr psychotherapeutisches Erstgespräch haben. In ländlichen Räumen und im Ruhrgebiet sind die Wartezeiten noch einmal deutlich länger, so die Ergebnisse einer Langzeitstudie der Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK), die in Zusammenarbeit mit den Fachkammern verschiedener Länder durchgeführt.

Folgen von zu langem Warten

Über die Hälfte der Therapeuten führt eine Warteliste. In der Regel beginnt eine Therapie nicht gleich nach dem Erstgespräch, sondern nach weiteren drei Monaten. Je länger die Wartezeit auf eine Behandlung dauert, desto mehr wird dies nach Einschätzung der Fachärzte für die Patienten zu einer erheblichen Belastung. Nicht nur das aber zeigt sich als Problem, sondern auch das erhöhte Risiko, dass sich psychische Erkrankungen verschlimmern, verlängern und dass sie vor allem wiederkehren.

So erkranken zum Beispiel mehr als die Hälfte aller Menschen mit einer Depression im Verlauf des Lebens erneut an einer Depression. Nach einer zweiten Erkrankung erhöht sich das Risiko wieder zu erkranken auf 70 Prozent und nach einer dritten Episode sogar auf 90 Prozent. Die durchschnittliche Dauer von unbehandelten depressiven Episoden ist zudem ungefähr doppelt so lang wie bei behandelten. Durch lange Wartezeiten im ambulanten Sektor erhöht sich zudem die Anzahl psychisch erkrankter Menschen, die sich in eine stationäre Behandlung begeben. Da die Kliniken verpflichtet sind, Patienten bei einer "Notaufnahme" zu untersuchen und ihnen ein erstes Gespräch anzubieten, folgt häufig eine stationäre Aufnahme.

Gesetz sieht Abbau von Therapeuten vor

Berufs- und Interessenverbände fordern deshalb mehr niedergelassene Psychotherapeuten. Auch der Bundesrat hat sich — nachzulesen in der BR-Drucksache 456/11 - bereits mit der Problematik befasst und plante die Neuberechnung der Höchstgrenzen, bis zu denen sich Psychotherapeuten in einer Region niederlassen dürfen.

Die Bundesregierung hingegen hat in ihrer Gegenäußerung deutlich gemacht, dass sie der Empfehlung nicht folgen wolle. Das geplante Versorgungsstrukturgesetz forciere die Situation sogar noch weiter, so die Befürchtungen der Berufsverbände. Es sehe nämlich den Abbau von 2.000 psychotherapeutischen Praxen ab dem kommenden Jahr vor. In Anbetracht dessen, dass sich seit 1990 hat sich der Anteil der Krankschreibungen von Arbeitnehmern aufgrund psychischer Erkrankungen fast verdoppelt habe, befürchtet die Bundespsychotherapeutenkammer laut einer Stellungnahme, dass das Gesundheitssystem diesem steigenden Behandlungsbedarf nicht gerecht werde.

Psychische Erkrankungen auf dem Vormarsch

Bei immer mehr Menschen werden psychische Störungen diagnostiziert. Das ergab eine Langzeitstudie, die Wissenschaftler der Universitäten Mannheim und Trier im Auftrag der Techniker Krankenkasse (TK) durchführten. Depressionen, Angst- und Belastungsstörungen haben immer größeren Anteil an Krankschreibungen und sind Hauptursache von Frühverrentungen in Deutschland. Zudem steigt das Verordnungsvolumen von Psychopharmaka kontinuierlich. Psychotherapie gehört zu den umsatzstärksten ärztlichen Leistungen in der gesetzlichen Krankenversicherung.

Die Wissenschaftler legten in ihrer Untersuchung ihren Fokus vor allem auf die Behandlungsqualität der Psychotherapie. Das Ergebnis: Jeder Euro, der in Psychotherapie investiert wird, führe an anderer Stelle zu einer Einsparung von zwei bis vier Euro. Der Zugang zur Psychotherapie sei jedoch zu bürokratisch organisiert.

Zu viele bürokratische Hürden

Dauert eine Psychotherapie länger als 25 Stunden, müssen die Krankenkassen bevor sie die Kosten übernehmen dürfen in einem vor über vier Jahrzehnten eingeführten Gutachterverfahren prüfen lassen, ob die Weiterbehandlung medizinisch notwendig ist. Dr. Thomas Ruprecht, der das Modellvorhaben für die TK betreut hat, findet, dass dies für alle Beteiligten, Therapeuten, Patienten und Krankenkassen mit hohem bürokratischem Aufwand und Kosten verbunden sei. Die Studie habe gezeigt, dass die Therapiequalität ohne Gutachten nicht schlechter ist und auch nicht wesentlich mehr Therapiestunden abgerechnet werden.

Wartezeiten verkürzen

Patienten, die therapeutische Unterstützung suchen empfiehlt die Stiftung Warentest bei langen Wartezeiten auf einen Psychotherapieplatz das Kostenerstattungsverfahren nach § 13,3 SGB V. Danach sind die Krankenkassen verpflichtet, eine notwendige Behandlung auch bei einem approbierten Psychotherapeuten ohne Kassensitz zu finanzieren, vorausgesetzt, es gibt rechtzeitig keinen Therapieplatz in zumutbarer Entfernung bei einem Vertragsbehandler.

Daneben können Patienten versuchen, auf freie Therapeuten zurückzugreifen. Allerdings müssen sie dann selbst in die Tasche greifen und die Kosten für die private Therapie selbst übernehmen. Immerhin besteht in einem solchen Fall die Möglichkeit, diese Kosten bei der Lohnsteuererklärung anzugeben oder sie zum Teil über private Zusatzversicherungen abzufedern.

Therapeuten finden

Viele Patienten wissen gar nicht, wo sie sich gut beraten lassen und einen Psychotherapeuten finden können. Das ergab die Umfrage der Stiftung Warentest. Das Gleiche gelte für einen möglichen Misserfolg der Therapie, der noch bei zu vielen Patientinnen und Patienten im Abbruch münde statt in der Suche nach geeigneten Alternativen. Hilfen bieten in beiden Fällen zum Beispiel der Psychotherapieinformationsdienst des Berufsverbandes Deutscher Psychologen, die Kassenärztliche Vereinigung (KBV) oder die Landesgruppen der Berufsverbände.

(RPO)
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