Psychologie Wo ist eigentlich Zuhause?

Düsseldorf · Gerade zu Weihnachten ist das Zuhause ein wichtiger Ort für uns. Aber was genau macht ein Zuhause eigentlich aus? Eine Spurensuche.

 Viele erleben "zuhause sein" da, wo sie emotionale Bindungen haben.

Viele erleben "zuhause sein" da, wo sie emotionale Bindungen haben.

Foto: shutterstock/ Pressmaster

Angelika kommt gebürtig aus dem Rheinland. Jetzt wohnt sie in Ulm. Die Lebensumstände und die Liebe haben sie dorthin gebracht und vermutlich fühlt sie sich dort nach zig Jahren auch irgendwie zuhause. Wenn ich sie aber heute fragen würde, wann sie eigentlich wieder einmal nach Hause fährt, würde sie mir den Tag nennen, an dem sie hunderte von Kilometern zurücklegt, um ihre Eltern in Erkelenz zu besuchen.

Wenn wir beide darüber reden, wie es wohl sein wird, wenn wir alt sind, dann reden wir darüber, wie wir große Hüte tragen und tüddlig in schnuckeligen Cafés sitzen werden. Diese Cafés sind irgendwo zwischen Erkelenz und Viersen. Uns beiden ist bei diesen Fantastereien vollkommen klar, dass sie irgendwann ihr Zuhause in Ulm verlassen wird, um wieder "nach Hause" zu kommen — ins Rheinland.

Das sind unsere Wurzeln

Da haben wir uns kennengelernt und sind damit ein Musterbeispiel für das, was laut Heimatforscherin Beate Mitzscherlich für Menschen eigentlich "Zuhause" ist: "Ein Ort, an dem man ein Grundgefühl von Geborgenheit spürt. Die Verbindung von räumlicher und sozialer Sicherheit." Oft sind es Orte, mit denen uns emotional etwas verbindet: Der Ort, an dem wir aufgewachsen sind oder an dem wir unsere eigene Familie gründen. "Da, wo man seinen ersten Kuss bekommen hat oder viele Personen kennt, die einem wichtig sind", sagt die Leipziger Heimatforscherin. Daraus wird deutlich: Beim Sich-zuhause-Fühlen spielen Menschen und Gefühle eine große Rolle. Zuhause ist ein Ort, an den wir eine gute Erinnerung haben. "Wenn da plötzlich keiner mehr wohnt, den ich kenne, verliert der Ort an Heimatbezogenheit", sagt Mitzscherlich. Unser Gedächtnis betreibt Spurensicherung. Wir besetzen Orte, mit unseren Geschichten und Gefühlen. Das macht diese Punkte zu vertrauten Orten.

Eine Untersuchung, die nach dem Mauerfall gemacht wurde, als Ostdeutsche nach Westdeutschland kamen und umgekehrt, stellte fest, dass diese Menschen höhere Werte für Depressivität und Angst zeigten. "Und die Werte gingen in dem Moment runter, in dem sie Freunde gefunden hatten", sagt die Heimatforscherin.

Die Wurzeln für die Fähigkeit, sich zuhause fühlen zu können, werden schon früh gelegt. Aus der Psychologie weiß man, dass die Ersterfahrungen auf spätere Bindungen übertragen werden. Kinder, die gute Bindungen und ein Zuhause vorgefunden haben, können sich später in einer anderen Lebensphase leichter ein neues und auch ein zusätzliches Zuhause schaffen.

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Entwurzelte bleiben ewig Suchende

Manchmal aber läuft das gehörig schief. "Ich habe stets das Gefühl, dass mir etwas fehlt und ich bin auf der Suche nach einem Ort, der sich für mich wie ein Zuhause anfühlt. Ich habe so eine Sehnsucht in mir, die immer da ist und nie schwächer wird." Als Scheidungskind berichtet jemand anonym in einem Psychologieforum davon, keine richtige Familie gehabt zu haben und wegen Erkrankungen wichtiger Bezugspersonen früh auf sich allein gestellt gewesen zu sein. Nie verwurzelt gewesen, geht für solche Menschen ohne Hilfe die Suche nach emotionaler Geborgenheit ewig weiter.

Darum ist unser erstes Zuhause so wichtig. "Es entscheidet darüber, wie wir etwas bewerten, was für uns gute Strukturen sind", sagt Mitzscherlich. Melodien, Gerüche, Speisen oder visuelle Unterschiede wie solche zwischen dem Bergland oder Meerregionen brennen sich ins Hirn und prägen uns in unserem Heimatempfinden.

Weihnachten nach Hause zu kommen und dort mit der Familie zu feiern, das ist für die meisten eine schöne Vorstellung. Doch es kann auch zum Horrortrip werden. Dann nämlich, wenn das Zuhause negativ belegt ist, man dort belastende Erfahrungen gemacht hat. Wenn sich in diesen Tagen Menschen auf die Flucht begeben, dann verlieren sie ihre Heimat nicht nur, weil sie sie verlassen müssen.

Was passiert, wenn zuhause Angst macht

So wie beispielsweise in Aleppo. Die Stadt im Norden Syriens war für Millionen Menschen ihr Zuhause. Nun sind weite Teile zerstört. Nichts ist mehr wie es war. Familien wurden auseinandergerissen. Viele haben dort Angehörige verloren. "Krieg zerstört Zuhause. Überall auf der Welt", sagt die Heimatforscherin.

Es ist eine Belastung das zu erleben, und seine Heimat in Ruinen zurücklassen zu müssen. Ebenso belastend ist es, im Zufluchtsland vollkommen fremde Strukturen, Gebräuche oder Speisen vorzufinden, und soziale Bindungen oftmals komplett aufgeben zu müssen. "Wir brauchen das Gefühl von Identität und Kontinuität, um anknüpfen zu können an vorherige Erfahrungen", sagt Psychologin Mitzscherlich.

Warum Wohnortwechsel schwer sein können

Für Menschen, die aus welchen Gründen auch immer heimatlos sind, sei es wichtig, schnell soziale Beziehungen zu knüpfen, und sich territorial zurecht zu finden. Die Verhaltensbiologen sehen darin einen Zusammenhang zum "Abstecken des Reviers", wie es auch aus dem Tierreich bekannt ist. Welche Rolle das beim Menschen spielt, zeigt sich — auch ohne traumatische Erfahrungen — nach einem Umzug. Es dauert eine ganze Weile, bis wir uns im Straßennetz orientieren können. Alleine im neuen Zuhause problemlos und auf Anhieb das Besteck zu finden oder im Dunkeln die Lichtschalter, fordert uns einiges ab, wenn durch den Ortswechsel Gewohnheiten anders werden. Es nervt nicht nur, sondern sorgt auch für ein Gefühl des Fremdseins.

Wohnortverlagerungen, wie sie heutzutage oftmals das Alter mit sich bringt, sind aus eben diesem Grund schwer zu verkraften. Es fehlt nicht nur der bekannte Raum, sondern auch das soziale Umfeld: Menschen, die einen von Kindesbeinen an kannten, und nicht erst als alten Menschen.

Eine Hotelkette als Zuhause

Das kennen auch Vielreisende. Mit Hilfe verschiedener Techniken könne man trotz Globalisierung versuchen, sich die nötigen Ankerpunkte auch unterwegs zu schaffen, sagt Mitzscherlich. "Ich kenne jemanden, dem hilft es, in immer derselben Hotelkette einzuchecken. Das ist ein Ankerpunkt für ihn." Die Hausbar sei dadurch immer an derselben Stelle, die Abläufe im Haus ähnlich. Man müsse nur wenig Energie aufbringen, sich zu orientieren.

Nicht ohne Grund treffen sich die meisten Familien an Weihnachten zu Hause. Und Angelika? Die wird das Weihnachtsfest in Ulm verbringen, ihrem zweiten Zuhause.

(wat)
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