Studienergebnisse bedienen Vorurteile Viele Fehldiagnosen bei ADHS

Bochum · Zu viele Kinder erhalten unberechtigter Weise die Diagnose ADHS, finden Wissenschaftler der Ruhr-Uni Bochum nach einer Studie belegt. Therapeuten fällen demnach das Urteil nach Faustregeln. Die Ergebnisse sind Wasser auf die Mühlen derer, die darüber anders denken.

Therapie und Hilfe bei ADHS
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Foto: Techniker Krankenkasse

Mozart soll es gehabt haben, Einstein und auch über Bill Gates wird gemutmaßt, dass sie kreativ und verhaltensauffällig gleichermaßen seien. Die geniale Prominenz rückt das Thema ADHS in ein anderes Licht und zeigt neben den Symptomen, die die meisten als Träumer oder Hyperaktive abstempeln in ein neues Licht.

Fast schon inflationär hieß es in den vergangenen Jahrzehnten bei den "Zappelphilipps" und schwierigen Kindern: Diagnose ADHS, finden Wissenschaftler der Ruhr-Universität Bochum und der Universität Basel. Zwischen 1989 und 2001 stieg die Anzahl in der klinischen Praxis um 381 Prozent. Die Ausgaben für ADHS-Medikamente haben sich in einem vergleichbaren Zeitraum von 1993 bis 2003 verneunfacht — beispielsweise für das leistungssteigernde Methylphenidat, so erklärt die Ruhr-Universität Bochum anlässlich neuer Studienergebnisse. So haben die Forscher ermittelt, dass die Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung AHS zu häufig diagnostiziert werde.

Ritalin wird auch bei Vorschulkindern verordnet

In Deutschland berichtet die Techniker Krankenkasse für ihre Versicherten im Alter zwischen sechs und 18 Jahre einen Anstieg der Methylphenidat-Verschreibungen, das durch das Präparat Ritalin bekannt geworden ist, um 30 Prozent in der Zeit von 2006 bis 2010. Neu sei zudem, dass die Verschreibung dieses Wirkstoffs auch an Kinder im Vorschulalter erfolge. In diesen Jahren haben sich zudem die Tagesdosierungen im Schnitt um zehn Prozent erhöht.

Auch die Ausgaben sind laut Studien gestiegen: Innerhalb von zehn Jahren haben sie sich verneunfacht. Der Gemeinsame Bundesausschuss beschloss daraufhin, dass Methylphenidat nur noch von Spezialisten für Verhaltensauffälligkeiten verschrieben werden dürfe. Die Bochumer Wissenschaftler bemängeln in Zusammenhang mit ihren Ergebnisse, dass es auch nach einer 50-jährigen Behandlungspraxis mit Methylphenidat keine systematische Studie zu Langzeitwirkung nach mehrjähriger Behandlung mit diesen Medikamenten bei Kindern gebe.

Psychotherapeuten und Psychiater für Kinder und Jugendliche fällen, so das Ergebnis der Wissenschaftler weiter, ihr Urteil offensichtlich eher anhand von Faustregeln, so genannten Heuristiken, statt sich eng an die gültigen Diagnosekriterien zu halten. Insbesondere bei Jungen stellten sie deutlich mehr Fehldiagnosen als bei Mädchen. "Ein gleich großer Prozentsatz stellte die Diagnose trotz klar gegebener Symptomatik und vollständig erfüllten Diagnosekriterien hingegen nicht", hält Vorstandsmitglied des Selbsthilfevereins ADHS Deutschland e.V. Dr. Johannes Streif dagegen. Das werde in der offiziellen Mitteilung der Universität nicht erwähnt. Er hält zudem die Studie für nicht repräsentativ.

Leon hat ADHS, Lea nicht

Befragt haben die Forscher insgesamt 1.000 Kinder- und Jugendpsychotherapeuten und -psychiater bundesweit. 473 nahmen an der Befragung teil. Sie erhielten je eine von vier unterschiedlichen Fallgeschichten und sollten eine Diagnose stellen sowie eine Therapie vorschlagen. In drei der vier Fälle lag anhand der geschilderten Symptome und Umstände kein ADHS vor, nur ein Fall war mit Hilfe der geltenden Leitlinien und Kriterien eindeutig als Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung diagnostizierbar. Da die Forscher auch noch das Geschlecht der "Patienten" variierten, wurden insgesamt acht verschiedene Fälle beurteilt. Daraus ergab sich bei je zwei gleichen Fallgeschichten nach den Ergebnissen der Bochumer Wissenschaftler der Unterschied: Leon hat ADHS, Lea nicht.

Weibliche Therapeuten entscheiden anders als männliche

Viele Kinder- und Jugendpsychotherapeuten und -psychiater gehen dabei offensichtlich eher heuristisch vor und entscheiden nach prototypischen Symptomen. Der Prototyp ist männlich und zeigt Symptome von motorischer Unruhe, mangelnder Konzentration oder Impulsivität. Die Nennung dieser Symptome löst bei den Diagnostikern in Abhängigkeit vom Geschlecht unterschiedliche Diagnosen aus. Treten diese Symptome bei einem Jungen auf bekommt er die Diagnose ADHS, die identischen Symptome bei einem Mädchen führen jedoch zu keiner ADHS-Diagnose.

Es spielt aber laut Studienergebnis auch eine Rolle, wer die Diagnose stellt: Mann oder Frau. Männliche Therapeuten diagnostizierten häufiger ein ADHS als weibliche, sagen die Wissenschaftler der Ruhr Universität. Bemängelt wird von der Selbsthilfegruppe ADHS Deutschland, dass die Studie keinen Aufschluss darüber gibt, welche Berufsgruppen und Therapierichtungen die befragten Fachleute vertreten.

Das eint die Wissenschaft

Einig sind sich die Wissenschaftler darin, dass es auch nach der Bochumer Studie noch erheblichen Forschungsbedarf gibt. "Dem großen öffentlichen Interesse steht eine bemerkenswert geringe Basis an empirischen Studien zu diesem Thema gegenüber", erklärt Prof. Dr. Silvia Schneider. Um eine falsche Diagnose bei ADHS und eine vorschnelle Behandlung zu verhindern, sei es entscheidend, sich nicht auf seine Intuition zu verlassen, sondern sich klar an den festgelegten Kriterien zu orientieren. Auch Psychologe Dr. Streif wünscht sich das Bemühen um bessere Ärzte, Therapeuten, Diagnostik und Therapien. Leitlinien dazu sind bereits formuliert: In Leitlinien der Gesellschaften für Kinder- und Jugendpsychiatrie, der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und anderen Institutionen.

(wat)
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