Liebesleben außer Kontrolle Sexsucht – wenn die Lust zur Qual wird

Hannover · Für den einen gehört Sex zu den schönsten Dingen der Welt, für andere ist es eine Qual: Pausenlos kreisen die Gedanken nur um das eine. Vom Spaß ist das unendlich weit entfernt. Lesen Sie hier, was Sexsüchtige quält und wo sie Hilfe finden.

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Foto: Shutterstock/Andrey_Popov

Von vielen wird Sexsucht belächelt als Suche nach dem Freibrief für Seitensprünge und ein ausgeprägtes Casanova-Verhalten. Doch den Betroffenen legt die medizinisch auch als Hypersexualität bezeichnete Krankheit Fesseln an, die sie selbst nicht sprengen können.

Das ständige Verlangen treibt sie in fremde Betten, doch auch mehrfacher Sex am Tag lässt das Wohlgefühl, das andere danach haben, nicht aufkommen. Stattdessen fühlen sie sich mies und haben Schuldgefühle. Dennoch können sie nicht davon ablassen, kurze Zeit später wieder nach der nächsten Chance zum Orgasmus gieren.

Übermäßig häufiges Masturbieren, regelmäßiger Pornokonsum, viele wechselnde Sexualkontakte, das Suchen nach Gelegenheiten zum Sex – all das sind Hinweise auf ein krankhaftes Verhalten, das zwar nach Meinung von Experten wie dem Sexualmediziner Prof. Uwe Hartmann Züge einer Sucht aufweist, doch bislang als solche nicht anerkannt ist.

Auch in die neueste Version des amerikanischen Klassifikationssystems für psychische Störungen – das DSM-5 – ist sie nicht aufgenommen worden. Dort bleibt die Spielsucht die einzige Verhaltenssucht, die in dem Katalog zu finden ist. Kritiker wollen so die schützen, die häufig Sex haben, sich aber dadurch nicht beeinträchtigt fühlen. Sie sollen nicht durch eine klinisch-diagnostische Marke pathologisiert werden.

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Wie oft ist noch normal?

Das Problem dahinter: Das Leid, das die Krankheit verursacht, lässt sich nicht in Sexualakten messen, auch wenn es eine Zahl gibt, die die Häufigkeit von Sex im Durchschnitt erfasst. Doch was ist noch normal? "Die Häufigkeit von Geschlechtsverkehr schwankt erheblich. Statistisch liegt sie bei 1,2 bis 1,4 Mal in der Woche. Doch wie oft jemand an Sex denkt, kann man nicht messen", sagt Hartmann, Leiter des Arbeitsbereichs Klinische Psychologie und Sexualmedizin an der Medizinischen Hochschule Hannover, die als eine der wenigen darauf spezialisierten Anlaufstellen für das Problem in Deutschland gilt.

Entscheidend sei zudem nicht nur die Häufigkeit sexueller Gedanken und Handlungen, sondern der persönliche Leidensdruck. Können die Betroffenen ihr Sexualverhalten noch selber steuern, oder ist es unkontrollierbar aus den Fugen geraten?

Das Fehlen einer diagnostischen Klassifikation macht diese Situation nicht gerade leichter. Die Betroffenen leben in der Grauzone der psychologisch-diagnostischen Möglichkeiten. Große Sexsuchtzentren sind nicht vorhanden, meist müssen sie mit Sexualtherapeuten Vorlieb nehmen, die andere Arbeitsschwerpunkte wie zum Beispiel die Paartherapie haben.

Wie die unbändige Lust auf Sex ein Leben ruinieren kann

Dabei ist die Hypersexualität alles andere als ein seltenes Leiden: Amerikanische Forscher gehen davon aus, dass drei bis sechs Prozent der Bevölkerung irgendwann im Laufe ihres Lebens einmal an ihr leiden. Auf drei Männer kommt nur eine Frau, die auf der ständigen Suche nach Befriedigung ist.

Welche körpereigenen Drogen es gibt
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Foto: Stadt Düsseldorf

Wie getrieben sehnen sie sich dauernd den befriedigenden Höhepunkt zu erleben und ruinieren durch das unkontrollierbare Verhalten oft ihr Leben. Besuche in Sexkinos und bei Prostituierten stehen auf der Tagesordnung, für Telefonsex oder neue Pornovideos aus dem Internet geben sie tausende Euro aus. Das Verlangen kann so übermächtig werden, dass sich die Betroffenen nicht mehr auf ihre Arbeit konzentrieren können und mit beruflichen und mit Sexterminen jonglieren.

Anders zeigt sich das abnorme Verlangen oft bei Frauen. Häufig greifen sie zu Alkohol oder Drogen und suchen dann im Rausch einen One-Night-Stand. Manche riskieren dabei auch, sich mit sexuell übertragbaren Krankheiten anzustecken, andere zählen hingegen auch Online-Chats mit zu den sexuell motivierten Zwangs-Aktivitäten rund um ihre Sexgier.

Anzeichen der Sucht

Prof. Uwe Hartmann sind diese Fälle alles andere als fremd. Er kennt die Geschichten, in denen Männer ein wahres Doppelleben führen, um die unstillbare Lust zu verbergen. "Sie schlagen ihren Frauen vor, sich ein Opernabo zu gönnen, damit sie in der Zeit in Ruhe im Internet Pornos ansehen können." Manche vernachlässigen über die immens zeitraubende falsche Leidenschaft ihre sozialen Kontakte und bekommen massive berufliche Probleme.

Der totale Absturz folgt nicht nur in finanzieller Hinsicht, sondern auch dadurch, dass die Betroffenen irgendwann ihrer Partnerin gestehen müssen, dass sie wegen der Sexsucht ein Doppelleben führen. "Für sie gibt es eine normale Welt und eine Sexwelt", sagt Sexualwissenschaftler Hartmann. Es sind undenkbar demütigende Momente, in denen ahnungslose Frauen Massen von Pornos auf dem Rechner ihres Liebsten finden, oder Spuren von Kontakten zu anderen Frauen auf dem Handy. Sie geben den berechtigten Anlass zu tiefen Vertrauenskrisen.

Die sind nicht leichter dadurch zu ertragen, dass auch die Wissenschaft bei der Suche nach den Gründen für dieses Verhalten im Dunkeln tappt. Diskutiert wird, inwiefern eigene Erlebnisse aus der Kindheit und Jugend eine Rolle spielen: sexueller Missbrauch könnte ein Auslöser sein oder das Beobachten dauernd wechselnder Geschlechtspartner bei den Eltern. Sicher ist, dass Hypersexualität eine Reaktion auf Stress, Angst oder eigene Langeweile sein kann.

Die Sucht nach körpereigenen Drogen

Dabei bekommt dem Sexualtrieb eine übermächtige Bedeutung. Neben anderen Trieben wie Hunger oder Durst ist er nicht zu unterschätzen. Untersuchungen bei Ratten haben gezeigt, dass Sex ein so starker Suchtstoff sein kann, dass er von den Tieren einer Gabe Heroin vorgezogen wurde. Im Gehirn sorgt die sexuelle Bestätigung für ein Feuerwerk an Hormonreaktionen. Körpereigene Drogen wie Botenstoffe, Neurotransmitter, Dopamin, Opiate und Endorphine werden in Massen ausgeschüttet und wirken zumindest kurzzeitig entspannend, lösen Angstzustände oder wirken gegen Schmerzen.

Darüber, warum Männer häufiger betroffen sind als Frauen, lassen sich ebenfalls nur Mutmaßungen anstellen. Sexualmediziner Hartmann führt es unter anderen darauf zurück, dass bei Männern der innere Motor zur Sexualität ohnehin stärker ist. "Männer versuchen stärker ihre Probleme auch durch Sex zu lösen", sagt er. "Sie benutzen Sex wie Aspirin, um etwas anderes zu kompensieren.

Wie Therapeuten die Sucht wieder in Bahnen lenken

Eine spezielle Therapie gibt es nicht. In Hannover hat man gute Erfahrungen damit gemacht, die Patienten mit verschiedenen psychotherapeutischen Verfahren zu begleiten. "Wir versuchen den Dampf aus der Sache herauszunehmen und zu erreichen, dass die Zahl der sexuellen Handlungen reduziert wird. Das setzt den Patienten in die Situation Sex selbst wieder kontrollieren zu können und gibt ihnen Selbstbewusstsein zurück", sagt der Sexualtherapeut. Dabei stelle sich häufig heraus, dass es den Betroffenen an stabilen intimen Beziehungen fehle und sie keinen Zugang zu ihren Gefühlen haben.

In begründeten Fällen kommt eine begleitende medikamentöse Therapie zum Einsatz. "Die Gabe von Antidepressiva erhöht den Serotoninspiegel im Hirn, was dämpfend auf die Sexualität wirkt", beschreibt Prof. Uwe Hartmann.

In ganz seltenen Fällen kann auch die Gabe von Antiandrogenen hilfreich sein. Sie werden auch bei Sexualstraftätern eingesetzt und setzten den Testosteronspiegel herunter. Theoretisch kann zwei Dritteln der Hypersexuellen geholfen werden, so schätzt der Sexmediziner. Faktisch gestaltet sich die Suche nach einem Therapeuten allerdings sehr schwierig. "In Deutschland gibt es zu wenig gut ausgebildete Sexualtherapeuten", sagt Hartmann.

Anlaufstellen findet man jedoch in den Sexualzentren der Unikliniken in Hamburg, Hannover und Berlin. Darüber hinaus lasen sich Behandler auch über die Deutsche Gesellschaft für Sexualmedizin, Sexualtherapie und Sexualwissenschaft (DGSMTW) finden.

(wat)
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