Wie Asbest die Lunge zerstört

Das Mineral galt lange als Wunderstoff, der in Deutschland tonnenweise verbaut wurde. Mit den Spätfolgen haben heute Tausende zu leben, die Zahl der Fälle steigt. Ihre Prognose ist schlecht.

Wie Asbest die Lunge zerstört
Foto: Radowski

Es beginnt mit dem Treppensteigen. Jede Stufe scheint ein wenig höher zu werden, mühsam quält sich der Körper und ringt nach Luft. Hat man das Stockwerk geschafft, ist das Röcheln nicht zu überhören. Atemnot treibt Schweiß auf die Stirn, und es dauert Minuten, bis der Körper sich erholt hat. Sicher nur das Alter, denkt sich der 77-Jährige, der früher als Monteur und Schweißer gearbeitet hat.

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Das Alter scheint für ihn auch dafür verantwortlich, dass jeder Atemzug zum Kraftakt wird, wenn er sich hinlegt - und zu einem Kampf, als er zwei Mal innerhalb weniger Monate an einer Lungenentzündung erkrankt. Beim Arzt stand schnell ein Verdacht im Raum: Asbestose.

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Jahrzehntelang war der Mann quer durch Deutschland unterwegs gewesen, hat Wolkenkratzer hochgezogen und in Kohle- oder Kernkraftwerken gearbeitet. Dabei war er massiv Asbest ausgesetzt. "Es galt als Mineral der 1000 Möglichkeiten", wie es Andreas Meyer, Chefarzt der Pneumologie und Leiter des Lungenkrebszentrums an den Mönchengladbacher Kliniken Maria Hilf, beschreibt: "relativ günstig, hitze- und witterungsbeständig und zudem säureresistent". Sogar für Bremsbeläge, Schutzkleidung für Feuerwehrleute und Picknick-Decken wurde es eingesetzt.

Nach Ende des Zweiten Weltkriegs nahm der Verbrauch beim Wiederaufbau stetig zu. "Zwischen 1965 und 1980 wurden teilweise 180.000 Tonnen pro Jahr eingesetzt", erklärt der Chefarzt, der heute Menschen behandelt, die den Preis für den damaligen Boom bezahlen. Einen Schwellenwert gibt es nicht: Niemand kann sagen, ab welcher Asbestbelastung ernsthafte Folgen drohen. Aber "die Gefahr besteht dann, wenn das Mineral über einen längeren Zeitraum eingeatmet worden ist", erklärt Meyer. Erst viel zu spät setzte in Deutschland 1993 das endgültige Verbot ein.

Asbest wird bei der Verarbeitung in Fasern aufgespalten, die so fein sind, dass sie tief in die Lunge gelangen. Dort löst die Faser Entzündungsreaktionen aus, und die körpereigene Abwehr reagiert: Spezielle "Fresszellen" sollen die Faser, den Fremdkörper, beseitigen. Doch sie schaffen es nicht. Vielmehr gehen die Fresszellen an der Faser selbst zugrunde, sterben ab und setzen dabei Gifte frei. Und wieder reagiert der Körper: Er versucht die Gefahr einzukapseln und bildet Bindegewebe. Vereinfacht gesagt: Die Lunge vernarbt innerlich - was dann aber den Sauerstoffaustausch mit dem Blut verhindert. Das Luftholen fällt immer schwerer. Die Diagnose: Asbestose - ohne eine Chance auf Heilung. Wenn die Erkrankung nicht weiter fortschreitet, ist das bereits das Optimum. Die Symptome lassen sich höchstens lindern.

"Fast nie tritt das Krankheitsbild unmittelbar nach dem Einatmen von Asbest auf", erklärt Meyer. "Bis sich gesundheitliche Probleme zeigen, dauert es 30 bis 40 Jahre." Darum sind es die heute 60- bis 80-Jährigen, die unter den Folgen des ungebremsten Asbest-Einsatzes in der Vergangenheit leiden. "Der Höhepunkt bei der Zahl der Krankheitsfälle ist noch nicht erreicht", sagt Meyer. "Wir erwarten ihn um 2020."

Statistisch werden nach Angaben der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV) etwa 2000 Asbestose-Fälle pro Jahr gezählt. Asbestose ist zudem unter den schwerwiegenden Folgen noch nicht einmal die tragischste. Es können auch Tumoren entstehen: Ein Lungenkarzinom ist ebenso möglich wie Kehlkopf- oder Rippenfellkrebs. Da stehen in der DGUV-Statistik als Summe ebenfalls rund 2000 Diagnosen pro Jahr. "Dabei war schon im 19. Jahrhundert bekannt, dass das Mineral die Gesundheit schädigen kann", sagt der Arbeitsmediziner Thomas Kraus von der Uniklinik Aachen. Er war maßgeblich an der Erstellung der Diagnose- und Begutachtungs-Richtlinien bei Asbest-Erkrankungen beteiligt und berät auch die Weltgesundheitsorganisation WHO. "Viele Ärzte denken bei den Symptomen nicht an Asbest", sagt Kraus. Das verzögere eine Klärung. "Es gibt Leitlinien für die Diagnostik, die konsequenter umgesetzt werden müssen." Das sei wichtig, weil "es sich um eine Berufserkrankung handelt".

Damit aber kommen die Berufsgenossenschaften ins Spiel. Der Verdacht einer Asbest-Erkrankung setzt bei ihnen ein langwieriges Verfahren in Gang. "Sie müssen feststellen, ob der Betroffene Asbest tatsächlich ausgesetzt war und in welchem Umfang", erklärt Kraus. Ist das der Fall, entstehen Ansprüche auf eine Rentenzahlung und die Übernahme der Behandlungskosten, die dann nicht mehr von den Krankenversicherungen getragen werden, sondern von den Berufsgenossenschaften. Das bedeutet dann viel Recherche.

Heute werden die Materialien dokumentiert, mit denen ein Betrieb arbeitet. Das war vor Jahrzehnten nicht der Fall. Und die Erkrankten selbst können sich nach Jahrzehnten nicht immer an jedes Detail ihrer Arbeit vor 30 oder 40 Jahren erinnern. Oft dauert es Jahre, bis nach einem Verdacht geklärt ist, ob Ansprüche bestehen. "Für die Betroffenen kann das frustrierend sein", sagt Kraus. Bisweilen sterben die Erkrankten auch, bevor Asbest als Ursache tatsächlich feststeht.

Und dennoch: "Wir haben in Deutschland aus unseren Fehlern gelernt", sagt Kraus. "Andere Länder aber sind dabei, sie zu wiederholen." In Russland, China, Brasilien und Kasachstan werden insgesamt rund zwei Millionen Tonnen Asbest pro Jahr produziert und immer noch weltweit eingesetzt. Die ehemaligen deutschen Spitzenwerte wirken im Vergleich klein. "Diese Länder werden die gleiche Entwicklung durchmachen", sagt Thomas Kraus. Er will helfen, eine globale Gesundheitskatastrophe zu verhindern. "Es muss sehr dringend ein weltweites Asbestverbot erreicht werden."

(jov)
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