Cottbus Auf den Spuren der Oberlausitzer Wölfe

Cottbus · Jährlich erkunden Tausende Besucher im Daubaner Wald zwischen Cottbus und Dresden die Lebensräume des Raubtiers.

Er lief in der Lausitz los, durchquerte Polen, erreichte Litauen, um dann nach Weißrussland abzudrehen. Von dort sendete das GPS-Halsband keine Signale mehr, das man ihm 2009 umgelegt hatte. Das heißt nicht, dass "Alan" tot ist. Vielleicht war nur der Akku leer.

"Einauge" war deutlich bodenständiger. 42 Welpen zog die Wölfin auf dem Truppenübungsplatz Oberlausitz und den weitläufigen, stillgelegten Flächen des angrenzenden Tagebaus Reichwalde groß. "Einauges" Nachkommen gründeten dort eigene Rudel. Europäische Grauwölfe werden in freier Natur durchschnittlich neun bis elf Jahre alt. Diese Wölfin aber brachte es auf 13 Jahre. Obwohl sie mit Schrotkugeln beschossen wurde und dabei ein Auge einbüßte. Am Ende waren es schwere Bissverletzungen, die sie nicht überlebte.

Gisbert Hiller erzählt von diesen so verschiedenen Wolfslebensläufen im Haus der tausend Teiche. Ein moderner Holzbau mit Foyer, Cafeteria und großem Vortragssaal. Hier steht der stämmige Mann mit Bart und Outdoor-Kleidung am Stehpult mit Videobeamer.

Routiniert spult er die wissenswertesten Fakten zum Europäischen Grauwolf herunter. Doch gerade bei den neun Kindern, die aufmerksam seiner wohltönenden Bass-Stimme lauschen, bleiben wohl eher diese kurzen Lebensabrisse zweier Wölfe im Gedächtnis haften. Neun Vier- bis Zwölfjährige, die von zwei Ehepaaren begleitet werden. Es ist ein Ausflug der Ortsgruppe der Deutschen Lebensrettungsgesellschaft (DLRG) in Meißen - einer von vielen, die in den Lebensraum eines einst gefürchteten Räubers führen.

Auf dem Areal des ehemaligen Truppenübungsplatzes, der heute der Deutschen Umwelthilfe gehört, hat ein Nachkomme "Einauges" eines der nunmehr zwölf Rudel in Sachsen gegründet. Hiller ist guter Dinge, dass jetzt am Vormittag Trittspuren der Tiere zu sehen sein werden. Es sind nur ein paar Hundert Meter von dem kleinen Ort bis in den Daubaner Wald. Der Ranger schreitet voran, bald ist die kleine Exkursionsgruppe von Nadelwald auf sandigem Grund eingeschlossen.

Trockenmoos am Wegesrand lässt Hiller das erste Mal stehen bleiben, in die Knie gehen und etwas erklären. Hundert Meter weiter zeigt er in den Wald hinein auf einen Ameisenhaufen. Auch mit diesen Kleinstlebewesen kennt er sich aus. Dann erreicht Hiller ein Haarknäuel mit Knochensplittern drin, das am Rand einer der sandigen Fahrspuren liegt. Der Kothaufen eines Wolfs. "Was hatte es noch mal auf sich mit solchen Haufen?", fragt Gisbert Hiller die Kinder, die sich sofort um ihn zusammenschließen.

Sie haben vorhin gut aufgepasst: Mit Kot, Urin und seinem Geheul markiert der Wolf sein Revier. Die wieder ausgeschiedenen Haare und Knochen dürften von Reh oder Rotwild stammen. Die frisst der hundeartige Beutegreifer vorzugsweise, zumeist ältere, geschwächte oder verletzte Tiere, die ohnehin nicht mehr lange zu leben hätten.

Der Wolf reguliere den Wildbestand, erklärt der Waldpädagoge mit der Ausbildung zum Landschaftsschutzpfleger. Er sorge damit auch dafür, dass nicht zu viele nachwachsende Laubbäume durch Schälschäden absterben. Hiller zitiert ein russisches Sprichwort: "Wo der Wolf läuft, wächst der Wald."

Mit allem, was Hiller sagt, informiert er nicht nur über die Wölfe. Er verteidigt auch ihr Naturrecht, wieder zurückgekehrt zu sein. Sie waren vor den Menschen hier. Doch dann habe man im 19. Jahrhundert Gruben für sie ausgehoben, erzählt er, sie erschossen und vergiftet, damit die Feudalherren allein in ihren Wäldern jagen konnten.

Michael Hackert und Holger Unger, die Begleiter der Kinder aus Meißen, fühlen sich zwar gut informiert, aber auch etwas einseitig. Von den Gefahren, die vom Wolf ausgehen, höre man hier heute bisher nicht viel, sagen sie. Michel Hackert erinnert an einen Vorfall mit den Raubtieren nahe Meißen. Wölfe sollen dort Pferde aufgescheucht haben, die dann auf einer Bundesstraße überfahren wurden. Mitten im Stadtgebiet von Meißen, am helllichten Tage, sei ein Wolf gesichtet worden. "Die kommen uns Menschen allmählich immer näher", so der Meißener.

Hiller beantwortet derweil Fragen eines wissbegierigen Ehepaars aus Freiburg. Werden für Wölfe Grünbrücken gebaut, damit sie die gefährlichen Straßen passieren können? Ist der Darm eines Wolfs so lang wie der eines Hundes? Der Ranger kann alles beantworten. Passen muss er, als vom Maiszünsler die Rede ist, der im Badischen Schäden anrichte. Die Freiburger machen in Hohenstein im Elbsandsteingebirge Urlaub. Von dort aus unternehmen sie Stippvisiten in die Region. Dresden sei beeindruckend gewesen, erzählen sie. Nun hier der Wolfstag. Bei ihnen zu Hause gebe es das nicht, diese tollen touristischen Angebote, Natur und Kultur so nah beieinander.

Dann endlich die Spuren. Auf den festgefahrenen Sandpisten im Wald zeichnen sich Wolfspfoten ab. Hiller geht in die Hocke und ist sofort wieder umringt von den Kindern. Mit dem Zollstock misst der Ranger die Abstände der Abdrücke. Sie haben genau die Form, die er in seinem Vortrag beschrieben hat. Ovaler als die eher rundlichen Abdrücke von Hunden. Außerdem setzt ein Hund die Hinterpfoten nicht so exakt in die Abdrücke der Vorderpfoten wie ein Wolf.

Mops oder Rottweiler laufen auch nicht so schnurstracks geradeaus. Dies sei das so wolfstypische "Schnüren". Hier sehe man es ganz deutlich, erklärt Hiller. Wölfe achten genau auf "Energieeffizienz". Sie bewegen sich auf kürzestem Weg aufs Ziel zu, nutzen dabei gern ausgetretene Pfade und Fahrspuren. Alle paar Meter bleibt die Gruppe stehen, in den Bann gezogen von den Spuren. "Pass auf, du trittst ja drauf", warnen sich die Kinder gegenseitig und setzen ihre Schritte ganz vorsichtig.

Gisbert Hiller fuhr früher Schlittenhunderennen, erzählt er auf dem Weg zurück ins Haus der tausend Teiche. Wer Hunde mag, ist er sicher, hat auch für Wölfe etwas übrig. "In jedem unserer Hunde steckt ein Stückchen Wolf." Er setzt auf diese emotionale Bindung beim Werben um Akzeptanz für den Wolf. Immerhin hat Hiller seit 2002 schon rund 18 900 Exkursionsteilnehmer erreicht. Den Wolf auch mal gesehen hat niemand bei diesen Ausflügen. Er selbst habe bisher viermal das Glück gehabt. Flüchtige Anblicke seien es gewesen, als er allein oder mit Jägern unterwegs war.

"Geben wir dem Urahn unserer Hunde eine Chance", sagt Ranger Hiller, als er seine 18 Begleiter verabschiedet. Die kritischen Hinweise zu seinem Vortrag versteht er nicht. Der Wolf und das Wild - darum sei es heute gegangen, nicht um den Wolf und das Nutztier. Außerdem habe er die Schafsrisse nicht verschwiegen in seinem Vortrag. Bilder von gerissenen Schafen oder auch von überfahrenen Wölfen zu zeigen und zu erläutern, das wäre vor den Kindern wohl auch nicht so passend gewesen.

(RP)
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