In den Tiefen der Insel La Reunion Der vielleicht einsamste Ort Frankreichs

Saint-Denis · Zwischen Madagaskar und Mauritius im Indischen Ozean liegt das französische Eiland La Réunion. Ein Dorf versteckt sich im Talkessel eines erloschenen Vulkans und lässt sich nur zu Fuß oder mit dem Helikopter erreichen.

In den Tiefen der Insel La Reunion: Der vielleicht einsamste Ort Frankreichs
Foto: Shutterstock/ infografick

Irgendwann ist es egal, wie viele Stufen noch kommen, ob der Puls hämmert oder die Knie schmerzen. Irgendwann löst man sich auf, verschwindet in der Umgebung. Mit jedem Schritt öffnet sich die Landschaft mehr: Es gibt Momente, da fühlt man sich an das schottische Hochland erinnert — aber mit Heidekraut, fünf Meter groß, gewaltigen Baumfahnen und Tamarindenbäumen. Dann wieder an eine afrikanische Steppe oder die Kargheit Skandinaviens. Ein falscher Schritt, und man stürzt Hunderte Meter in die Tiefe.

Es gibt fünf oder sechs Einstiege in den Talkessel Mafate, der über den "Col des Bœufs" ist der bequemste. Der Pass liegt auf 1956 Metern und lässt sich auch mit dem Auto erreichen. Über Tausende Treppenstufen geht es steil bergab, bis sich nach einigen Stunden ein Dorf aus der Versenkung erhebt: La Nouvelle, 1420 Meter über dem Meeresspiegel gelegen. Es ist das größte von schätzungsweise zehn Dörfern, die sich in Mafate verstecken. Es gibt noch zwei Talkessel, die durch den Vulkan Piton des Neigs entstanden sind: Salazie und Cilaos. Mafate ist der einzige, der heute noch nur zu Fuß oder per Helikopter zu erreichen ist. Früher benötigte der Postbote eine Woche, um alle Briefe zuzustellen. Seit einigen Jahren teilen sich zwei Postboten den Job.

Mafate liegt auf der Insel La Réunion auf der südlichen Halbkugel im Indischen Ozean, 200 Kilometer westlich von Mauritius, 700 Kilometer östlich von Madagaskar. Seit die Insel 1946 zum Übersee-Département erklärt wurde, ist sie das wildeste Stück Frankreich, das man sich vorstellen kann. Entlaufene Sklaven, Maronen genannt, flüchteten im 18. Jahrhundert in die Berge zu den Schwefelquellen. Daher der Name: Mafate, das bedeutet Stinkewasser. Heute leben noch ungefähr 700 Menschen in dem Talkessel, davon 200 in La Nouvelle. Einer davon ist Marion Buhan (28). Zusammen mit ihrem Lebensgefährten Jean-Yves Bégue betreibt sie das kleine Gästehaus "Le Tamaréo".

Kennengelernt haben sich die beiden in der Normandie. Er arbeitete als Koch im Casino de Deauville. Als klar war, dass er zurückgehen würde nach Réunion, nach La Nouvelle, in sein Heimatdorf, um dort die Hütte seines Vaters zu bewirtschaften, stand für Marion Buhan fest, dass sie ihn begleiten wird. "Dabei wusste ich nicht einmal, dass Réunion zu Frankreich gehört, geschweige denn, wo die Insel liegt", erzählt sie. Sie musste auf der Karte nachsehen. "Als mich meine Eltern zum ersten Mal besuchen kamen, meinten sie nur: ,Mein Gott, wo bist du hier gelandet?'", sagt Buhan und muss lachen.

Es ist keine 50 Jahre her, da galt die Insel als Entwicklungsland. Französische Beamte wurden nach La Nouvelle geschickt, um sich ein Bild zu machen und — waren entsetzt. Die Menschen lebten in ärmlichen Behausungen, die hygienischen Zustände waren katastrophal und die Verwandtschaftsverhältnisse inzestuös. Mittlerweile wurden die Holzhütten durch Wellblech ersetzt. Seit den 1980er Jahren haben die Bewohner Strom, den sie mit Hilfe von Solarzellen selbst erzeugen. Das Wasser kommt aus den Bergen. Der Müll ist ein Problem, weil er nur mit den Helikoptern abtransportiert werden kann, aber keines, das sich nicht lösen lässt.

Fernab der Moderne

Îles werden die Dörfer genannt, Inseln. Und so ist La Nouvelle: Es gibt keine Straßen, keine Straßenschilder oder Hausnummern. Was es gibt, ist eine Kirche, eine Schule, ein paar Bars, hauptsächlich für die Touristen, eine Poststelle und einen Bolzplatz. Wenn die Sonne früh hinter den Felsen verschwindet, wird es empfindlich kalt. Eigentlich wäre es der perfekte Aussteigerort — die Ruhe, die nur vom gelegentlichen Fluglärm unterbrochen wird, und die reine Natur, an der man sich nicht satt sehen kann. Allerdings achtet der Staat penibel darauf, dass sich die Einwohnerzahl nicht erhöht. In den Dörfern dürfen nur Einheimische leben. Die Grundstücke gehören dem Forstamt und können für jeweils neun Jahre gepachtet werden, dann muss ein neuer Antrag gestellt werden. Marion Buhan hat sich an das Leben in der Abgeschiedenheit gewöhnt. Shoppen, ins Kino gehen, tanzen im Club — sie vermisse nichts. Fast nichts. Ihre Familie und ihre Freunde, die vermisst sie schon. "Ohne die Arbeit und die Gäste könnte ich hier nicht leben", gesteht sie. "Nicht die nächsten 20 Jahre."

Auch Maurice Garvina (54) ist zurückgekehrt. 15 Jahre hat er in einer Bäckerei in der Insel-Hauptstadt Saint-Denis gearbeitet. Als er die Kündigung bekam, ging er nach La Nouvelle, um seine eigene Backstube zu eröffnen. Einen Bäcker gab es zu dem Zeitpunkt noch nicht in dem Dorf. Seine Spezialität ist Macatia, ein süßes Brot. Auf Bestellung backt er in seinem Holzofen auch Baguettes, Croissants, sogar Pizza, hauptsächlich für die Bergführer und ihre Gäste. Die Einheimischen essen traditionell eher Reis.

Garvina ist froh, dass er der Stadt den Rücken gekehrt hat. "In Saint-Denis war jeden Tag Stau", erzählt er. Und wie ist es in La Nouvelle? "Keine Staus." Das Leben sei ruhiger. Für seine achtjährige Tochter Anne-Cathrine wünscht er sich dennoch, dass sie einmal studieren kann und anschließend nach Australien auswandert, bloß nicht nach "La Métropole", wie das Mutterland hier genannt wird. Er selbst weiß noch nicht, ob er bleiben wird. Sein Vater ist 81 und hat La Nouvelle nie verlassen. Andererseits: "Jeden Tag wache ich in dieser Landschaft auf", sagt Garvina. "und jeden Tag ist sie ein bisschen schöner."

(RP)
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