Schweiz Alp-Abtrieb: Runter mit dem Rind

Donnernde Hufe, Schellen- und Glockengeläut, farbenfrohe Kränze auf den Köpfen: Beim Alp-Abtrieb in der Schweiz steht das Vieh im Mittelpunkt. Die Rückkehr ins Tal ist Teil des "Prättigauer Alp Spektakels" - auf Tour mit Bauern und Kühen.

Appenzellerland - Wo der Käse herkommt
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Ein beherzter Griff in die Nüstern des sahnefarbigen Mauls und schon hält die Kuh still, um sich den prächtigen Kopfschmuck aufzäumen zu lassen. Was bei Bauer Hans Jegen gekonnt aussieht, ist Schwerstarbeit. Das Braunvieh mit den langen Wimpern wehrt sich, schmeißt den schweren Kopf hin und her. Sicherheitshalber ist es an ein Stahlseil gebunden - ausbüxen unmöglich.

Die Luft ist kühl, der Atem der Rinder kondensiert. Vor der imposanten Kulisse des Schesaplana-Massivs im schweizerischen Kanton Graubünden werden Kühe getschäppelt - also mit Blumen schmücken. Im 1500-Seelen-Dorf Seewis im Prättigau bereiten die Bauern der ortsansässigen Alpgenossenschaft rund 80 Tiere für den Alpabzug vor. Dieser ist Teil des jährlichen "Prättigauer Alp Spektakels". Mit Schafen und Ziegen wird das Vieh ins Dorf getrieben - ein alter Brauch, wiederentdeckt, um Touristen wie Einheimische zu locken. Die Milchkühe muhen lautstark, wehren sich gegen die geschickten Handgriffe von Bauer Johann Ladner. Gute fünf Kilo wiegt die Glocke mit prächtig besticktem Halsband, die Ladner zur Hof-Übernahme von seiner Familie geschenkt bekommen hat. "Sie wird der Kuh zu besonderen Anlässen umgehängt", erzählt Bäuerin Regina Ladner-Fluor.

Dumpfes Geläut ertönt, die Köpfe der Rinder hängen schwer nach unten, der Widerstand war zwecklos: Fest sitzen die Plumpen um die Hälse. Was folgt, ist der Kopfschmuck. In liebevoller Kleinarbeit wurde er einen Tag zuvor im Stall von Bauer Hans Jegen gebastelt. "Das ist traditionell Aufgabe der Frauen. Blumen, Tannenzweige, Lorbeer und Moos werden zu kleinen Kunstwerken und Kränzen zusammengesteckt", berichtet Bäuerin Madlen Jegen. Etwa 25 Frauen des örtlichen Bäuerinnen-Vereins kleben Dahlien, Astern, Sonnenblumen und Silberdisteln auf mit Schrift verzierte Holztafeln. "Auch zu Hause ist es schön" oder "Lebt wohl ihr Alpen" und "Grüße aus den Bergen" prangt auf dem Kopfschmuck für das Vieh - ein Abschied vom "Sommer-Traum" auf den Alpwiesen.

"Für das Prättigau hat die Alpwirtschaft mit ihrer jahrhundertealten Kultur eine große Bedeutung. Sommer für Sommer werden hier insgesamt 150 000 Kilo Alpkäse und 15 000 Kilo Alpbutter hergestellt", sagt Bauer Hans Jegen. Und so fährt am Ende des Alpabzugs ein Pferdewagen mit dem Molchä, dem Käseertrag des Sommers, ins Dorf. "Es ist ein Dank an den Sommer und an das Personal, das mit den Tieren von Juni bis August auf den in bis zu 1900 Meter Höhe gelegenen Alpen lebt, dort das Melken der Kühe übernimmt und den Käse herstellt."

Die Tafeln samt Blumen zwischen die Hörner und Ohren der Rinder zu binden, erfordert Geschick. Mit Kordeln und Gurten werden sie um die Mäuler gezurrt. "Öh! Ah!": Die Bauern schnalzen mit den Zungen, rufen laut, um die Kühe zu beruhigen. Denn diese versuchen, die bekrönten Häupter aneinanderzustoßen. "Sie sind es nicht gewohnt, wollen alles abwerfen", sagt Bauer Hans Jegen. Sind alle Tiere getschäppelt, muss es schnell gehen: "Sonst bleibt nicht viel von den prächtigen Blumen übrig." Kurz darauf donnern die Hufe los, vorne weg Ziegen und Schafe. Das geschmückte Vieh gibt Gas und muss immer wieder von den Bauern gebremst werden. Muh-Laute und Plumpen-Sound wechseln sich lautstark ab, Juchzer ertönen - ein Lockruf der Sennen für die Kühe auf der Alp.

Am Streckenrand drängen sich Einheimische und Touristen, um den traditionellen Alpabzug zu erleben. Fotokameras werden gezückt - Beifall geklatscht, als der Molchä vorbeirollt. Einige Kilometer geht es im schnellen Galopp bergab, Mensch und Tier ziehen ins Tal. Die Hirten und Bauern arbeiten konzentriert, die Leiber der Kühe dampfen vor Aufregung in der Kälte - schließlich wird hier die Arbeit des Sommers präsentiert. Nicht zu nah an das Vieh herankommen, wenn es vorbeitrabt: Die Schaulustigen am Wegesrand müssen auf der Hut sein.

Im Dorf angekommen, verschnaufen Rinder, Ziegen und Schafe auf einer Weide nahe der Kirche. "Es ist alles gut gegangen", sagt Regina Ladner-Fluor und lächelt. Nur der prächtige Kopfschmuck der Kühe habe gelitten, aber das sei normal. In Seewis wartet schließlich der Alpkäsemarkt mit Degustation sowie die Wahl der "besten Prättigauer Alpkuh" auf die Besucher des Spektakels. Erst nach dem Fest kann der Winter im Tal beginnen, bis zum nächsten "Sommer-Traum" auf der Schweizer Alp.

(RP)
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