Litauen Mit dem Rad über die Kurische Nehrung

Klaipeda · Auf Satellitenbildern betrachtet ist sie nur ein Strich vor der litauischen Küste: Die Kurische Nehrung ist kaum vier Kilometer breit. Bei einer Radtour lassen sich die Wanderdünen, der Hexenberg oder die Künstlerkolonie Nidden auf der Halbinsel erkunden.

Mit dem Rad entlang Litauens Küste
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Kaffeepause auf dem litauischen Küstenradweg geht so: Die Kaffeefrau zaubert an der Maschine im Kofferraum ihres Kleinwagens Latte macchiato und Cappuccino, während die Radfahrer ihre müden Beine in das hohe Gras am Straßenrand strecken. Koffein-gestärkt erklimmen sie dann die steilen Sandhügel der Toten Düne. Von dort lässt sich die eindrucksvolle Aussicht über die Kurische Nehrung genießen: Links schweifen die Augen über die Ostsee, rechts über das Kurische Haff.

Von hier sind es nur noch wenige Kilometer bis nach Russland - und damit auch bis zum Ende des litauischen Küstenradwegs. Er beginnt an der Grenze zu Lettland und ist gut 200 Kilometer lang. Eröffnet wurde die Strecke 2006 als erste durchgängig beschilderte Route im Land. Aufgeteilt ist sie in drei Abschnitte, die sich miteinander kombinieren lassen. Ein Fahrradsymbol auf blauem Grund mit der Nummer 10 weist den Radfahrern den Weg, denn der Küstenradweg ist Teil der EuroVelo-Route 10, die einmal um die Ostsee führt.

Spuren deutscher Kultur sind überall zu entdecken

Die Hafenstadt Klaipeda, drittgrößte Stadt Litauens, dient als Ausgangspunkt aller Touren. Hier legen unter anderem Passagierfähren aus Kiel an. Klaipeda wurde im 13. Jahrhundert als Memelburg von deutschen Rittern gegründet - für Jahrhunderte war sie der Außenposten deutscher Kultur, Anfang des 19. Jahrhunderts sogar Residenzstadt des preußischen Königs. Erst nach dem Ende des Ersten Weltkrieges erfolgte die Trennung vom Deutschen Reich und die Angliederung an Litauen. Spuren des deutschen Erbes finden sich überall in der kopfsteingepflasterten Altstadt, die sich am besten zu Fuß entdecken lässt.

Wer ohne eigenen Drahtesel nach Litauen gereist ist, kann in Klaipeda problemlos das passende Gefährt mieten. Hier hat Baltic Bike Travel seinen Sitz: 200 Räder stehen zur Auswahl, auch Helme und Kinderanhänger werden verliehen. Für Individualtouristen gibt es passendes Kartenmaterial. Außerdem im Angebot: mehrtägige geführte Touren durch ganz Litauen.

Heute steht jedoch erst einmal eine Fahrt auf eigene Faust nach Palanga auf dem Programm. Der gepflegte Kurort, rund 27 Kilometer nördlich von Klaipeda, ist Litauens "heimliche Sommerhauptstadt". Saubere Strände, kaum Strömung. Das Flanieren über die hölzerne Seebrücke des Kurorts ist Pflichtprogramm und Spektakel zugleich. Den Weg zum Strand säumen Bänke - wie im Theater beobachten die Sitzenden von dort das bunte Treiben. Den Höhepunkt der Vorstellung bildet der Sonnenuntergang am Abend.

Ein Besuch lohnt auch im örtlichen Bernsteinmuseum im ehemaligen Palast des Grafen Felix Tiskevicius, weltweit durch seine Kollektion von fossilen Bernstein-Einschlüssen bekannt. Außerdem zu sehen: der Sonnenstein, mit 3526 Gramm das drittschwerste Bernsteinstück Europas. In der weitläufigen Parkanlage posieren gerade Braut und Bräutigam für ihre Hochzeitsfotos.

Eine atemberaubende Kulisse: Die "Holländermütze"

Kein ungewöhnlicher Anblick an diesem sonnigen Samstag. Auf dem Rückweg nach Klaipeda blitzt es ein ums andere Mal weiß am Wegesrand. Die traumhafte Kulisse der Steilküste dient etlichen Hochzeitspaaren fürs Fotoshooting. Immer wieder führen Holzstege vom Radweg zum Ostseestrand - auch gern genutzt als Treffpunkt für Mädelsabende, einen Spaziergang mit der Familie oder ein romantisches Date. Besonders beliebt: die atemberaubende Kulisse der sogenannten Holländermütze, ein 24 Meter hoher Steilhang.

Am nächsten Tag beginnt die Tour durch den Nationalpark Kurische Nehrung, der auch Unesco-Weltkulturerbe ist. 52 Kilometer lang ist der litauische Teil der Halbinsel. Im Hafen von Klaipeda wartet Inga Letinauskien auf die Radtouristen, sie leitet den Ausflug. Dann geht es mit der Fähre für 2,90 litauische Litas, umgerechnet etwa ein Euro, übers Haff. Fast ein halbes Jahrhundert war dieser Festlandstreifen für Urlauber unerreichbar, von der russischen Armee mit Raketenstellungen bestückt. Mittlerweile landen wieder unzählige Ausflügler in Smiltyne. Am Wochenende strömen vor allem Familien in das dortige Meeresmuseum samt Delfinarium.

Auf der Nehrung, mehr als 5000 Jahre durch Sand, Wind und Meereswellen geformt, ist alles etwas rauer. Selbst das Wetter passt sich der Umgebung an. Die Räder huckeln leicht über den nicht mehr ganz so glatten Radweg. Er verläuft direkt neben der Straße, doch Autos sind weit und breit nicht zu sehen. Stattdessen alte, verlassene Militärgebäude, die langsam verrotten. Ein paar Einheimische mit Plastikeimern voller Pilzen am Rad. Nur die drei Elche, die es auf der Nehrung geben soll, lassen sich nicht blicken.

Dafür warten in Juodkrante allerlei eigentümliche Gestalten auf die Radler. Ein Pfad führt auf den 42 Meter hohen Hexenberg, eine der schönsten Dünen der Halbinsel. Hier wurde bis zum Ersten Weltkrieg noch die Mittsommernacht gefeiert. Der Förster von Juodkrante, Jonas Stanius, ließ sich von den verwunschenen Wäldern inspirieren und rief 1979 einen Workshop für Holzschnitzer ins Leben - ihre Figuren hauchen jahrhundertealten Legenden Leben ein. Mehr als 80 freundliche und düstere Gestalten bevölkern nun den Hexenberg - unter ihnen die Riesin Neringa, die Namenspatin des litauischen Teils der Nehrung.

Geräuchter Fisch und Quarkkuchen in der Mittagspause

Beim Mittagspäuschen mit Quarkkuchen ist Zeit genug, den Märchen zu lauschen. Wer es lieber deftig mag, findet in dem Fischerörtchen eine passende Alternative: "Rukyta Zuvis" preisen zahlreiche Schilder an. Geräucherten Fisch. Einen Abstecher ist auch die Kurenwimpel Galerie wert. Die typischen Holzwimpel schmückten einst die Mastspitze der Segelkähne auf dem Haff. So ließen sich die Fischer besser ihren jeweiligen Heimatorten zuordnen. Geschnitzt beim stundenlangen Warten auf den Fang, entwickelten sie sich zu einer volkstümlichen Tradition mit besonderer Symbolsprache. Heute sind die Kurenwimpel ein beliebtes Souvenir für den heimischen Garten.

Weiter führt der Weg Richtung Süden, immer wieder schlängelt er sich durch lichte Kiefernwälder. Die Bäume stammen aus Dänemark, erklärt Inga, sie haben besonders breite Wurzeln. So halten sie die Nehrung fest. Bis ins 19. Jahrhundert hatten Sandverwehungen regelmäßig Dörfer unter dicken Schichten begraben. Besonders eindrucksvoll lässt sich das an der Toten Düne nachvollziehen. Ein Holzbohlenweg führt hinauf in eine unvergleichliche Sandlandschaft, die ständig vom Wind neu geformt wird. Meer, Wald, Dünen und Haff als Puzzleteile.

Nun ist es nicht mehr weit bis Nida, mit 1500 Einwohnern die größte Ortschaft der Halbinsel. Dem stehen etwa 400 000 Gäste pro Saison auf der Nehrung gegenüber. Ende des 19. Jahrhunderts waren es die Abgeschiedenheit und das besondere Licht der Halbinsel, die zahlreiche Künstler ins damalige Nidden lockten. Bekannte Namen wie Max Pechstein, Karl Schmidt-Rottluff und Ernst Mollenhauer lebten und arbeiteten in der Künstlerkolonie.

Berühmtester Feriengast war jedoch der Schriftsteller Thomas Mann. Von 1930 bis 1933 verbrachte er hier jeden Sommer, ließ sich auf dem Schwiegermutterberg sogar ein Ferienhäuschen bauen. Heute beherbergt es eine Ausstellung - vor der steilen Treppe kapitulieren die müden Radfahrer-Beine jedoch endgültig. Lieber wagen sie einen schnellen Abstecher ins Bernsteinmuseum. Wer das gelbe Gold streichelt, hat Glück für das ganze Jahr, erklärt die Aufsicht. Wer ein zweites Mal reibt, sorgt für schönes Wetter. Schwierige Entscheidung.

Ein Abstecher zur größten Wanderdüne Europas

Mit gefülltem Magen fällt sie leichter. Ausgehungert verschlingen die Radler zum Abendbrot geröstete Brotstäbchen und Zander. Dazu löscht Bier aus Klaipeda den Durst. Am nächsten Tag lacht die Sonne. Die Bernstein-Entscheidung war richtig. Vor der Abfahrt auf die andere Haffseite darf ein Abstecher zur Hohen Düne nicht fehlen. Mit 60 Metern ist sie eine der größten Wanderdünen Europas. Über 174 Stufen und Holzstege führt der schweißtreibende Aufstieg. Doch die Anstrengung wird mit einer atemberaubenden Weitsicht belohnt. Nichts als Sand, Wasser, Wind und Wolken.

Schon der Naturforscher Alexander Humboldt soll bei diesem Anblick gesagt haben: "Die Kurische Nehrung ist so merkwürdig, dass man sie eigentlich ebenso gut als Spanien und Italien gesehen haben muss, wenn einem nicht ein wunderbares Bild in der Seele fehlen soll." Schnell noch ein paar Fotos für die Daheimgebliebenen. Dann geht es in den Hafen, für die Überfahrt aufs Festland. Während im Sommer regelmäßig eine Fähre verkehrt, mieten Radfahrer außerhalb der Saison am besten ein Motorboot nach Minija.

Der Rückweg nach Klaipeda führt durch die Dörfer auf der Haffseite. Ein deutlicher Gegensatz zur touristisch erschlossenen Nehrung. Die Ortschaften sind ärmlich, der Radweg nur an wenigen Stellen asphaltiert. Und plötzlich das: In Svencele kreuzt ein Surfer in voller Montur den Weg. Wagemutige Litauer haben das Örtchen zu einem der bekanntesten Spots für Kitesurfer und Wakeboarder in Europa entwickelt. Und auch der Rad-Tourismus kommt langsam in Schwung.

(dpa)
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