Ladakh in Indien Schutz vor bösen Geistern

Im indischen Ladakh feiern die Menschen ein ganz besonderes Silvesterfest: Losar. Mit einer Spur aus Mehl versuchen sie das Schlechte von ihren Dörfern wegzulocken. Appu und Appi, die beiden Weisen, helfen ihnen dabei.

 Zu den buddhistischen Tänzen und Festen verkleiden sich einige der Mönche als mythologische Gestalten und tanzen.

Zu den buddhistischen Tänzen und Festen verkleiden sich einige der Mönche als mythologische Gestalten und tanzen.

Foto: Shutterstock.com/ Zzvet

Alle Köpfe drehen sich zum Eingang, wo zwei fast nackte Gestalten angerannt kommen. Sie tragen kurze Röckchen, Stoffkrausen und -masken, wilde Mähnen und sind mit schwarzen Zeichen auf der Haut beschmiert. Ungestüm laufen und springen die Sadhus zu den dröhnenden Trommeln und klarinettenartigen Blasinstrumenten auf der Tanzfläche umher, während sie ihre Säbel schwenken. Das Publikum hüpft von einem Fuß auf den anderen, um sich bei zweistelligen Minusgraden wenigstens ein bisschen warm zu halten. Es ist Anfang Januar, und das Neujahrsfest (Tibetisch: Losar) zieht sich schon seit Stunden hin.

Mit rund 1550 Einwohnern ist Chushot im oberen Industal, auf 3200 Metern in Ladakh gelegen, eines der größeren Dörfer. Anders als das tibetische Neujahrsfest findet das ladakhische bereits zwei Monate früher statt, üblicherweise zu Beginn des zehnten Monats des tibetischen Kalenders, das entspricht in etwa der Zeit Ende Dezember/Anfang Januar. Laut Legende kam das so: Im 16. Jahrhundert sollte ein ladhakischer König in den Krieg ziehen. Weil aber ungewiss war, ob er rechtzeitig zum Neujahrsfest wieder zurück sein würde, wurde Neujahr kurzerhand zwei Monate vorverlegt. Alles andere wäre ein böses Omen gewesen.

Es ist der fünfte Tag: das Finale der Losar-Feierlichkeiten. Appu und Appi sind die vergangenen Tage durch alle Häuser der Gemeinde gezogen, haben getanzt, gesegnet und Getränke verteilt. Jedes Jahr schlüpfen zwei junge Männer aus verschiedenen Familien in die traditionellen Gewänder. Appu, der Opa, trägt einen dicken langen Schaffellmantel, eine Stoffmaske und wilde Yakhaarzottel auf dem Kopf. In der Hand hält er Pfeil und Bogen. Appi, die Oma, trägt ein gestreiftes Wollkleid, ein Rückentuch, ebenfalls eine Stoffmaske und einen schwarzen Hut. In der einen Hand hält sie einen Teller mit einem Chapati (Fladenbrot), in der anderen einen Behälter mit Tsampa (geröstetes Gerstenmehl).

Vor Urzeiten stiegen die heiligen Männer von Kaschmir, die Sadhus und Babas, zum Jahresende hin den Fluss Indus hinauf zum heiligen Berg Kailash, um die Götter um ein gutes neues Jahr zu bitten. Und die Ladakhis tun es ihnen gleich, spielerisch. Im Laufe der Jahrhunderte sind noch weitere Rituale hinzugekommen, die sich von Dorf zu Dorf leicht unterscheiden. Gemeinsam ist ihnen, dass man sich vom Schlechten aus der Vergangenheit befreien, neu starten und für die Zukunft besonders viel Glück und Segen von den Göttern erhalten möchte.

Appu und Appi treffen gegen Mittag ein. Sie schenken Buttertee und Chang, das traditionelle Gerstenbier, aus und singen und tanzen mit den Dorfbewohnern die traditionellen Losarlieder. Um das Böse loszuwerden, reiben sich einige der Anwesenden mit einem Stück Tsampa über den Körper. Anschließend formt ein Mönch aus dem Kloster Hemis aus dem Teig zwei etwa 30 Zentimeter große Figuren, Mann und Frau, und fertigt ein Dos an, ein Fadengebilde, in welches das "Schlechte" hängen bleiben soll. Anschließend spricht er eine Puja, ein Gebet, in der er das Schlechte darum bittet, zu verschwinden. Stundenlang geht das so. "Dieses Ritual existiert seit etwa 200 Jahren", erzählt der Mönch. "Ich habe es von meinem Vorgänger übernommen und werde es in ein paar Jahren an meinen Nachfolger weitergeben."

Draußen auf dem Festplatz ist es voller geworden. Die Tänze der Dorfleute werden von Showeinlagen abgelöst. Zwei Männer führen mit einem als Ziege verkleideten Felllumpen eine Komödie auf. Das Publikum johlt vor Lachen. Zwei als Sikh-Soldaten verkleidete Männer stellen ihre Geschicklichkeit unter Beweis, indem sie ein Ei auf einem Holzgerüst mit ihrem Säbel köpfen müssen, ohne dass es hinunterfällt. Das Ganze gipfelt in einem Showtanzkampf. Dann erscheint ein weiterer Appu mit einem Brief vom König und Opfergaben für die bösen Geister. Diese werden angefleht: "Bitte belästigt uns nicht! Verführt uns nicht, böse Dinge zu tun!"

Dann, nach langem Warten, erscheinen endlich die halbnackten Sadhus. Sie gebärden sich wild, schütteln ihre langen Mähnen. Appi hüpft dazwischen und schaufelt aus ihrer Tasche Gerstenmehl, mit dem sie eine Spur legt, um das Böse wegzulocken. Appu schnappt sich die beiden Figuren und folgt ihr zusammen mit den Sadhus. Appu schießt einen Pfeil mit all dem Schlechten in die Luft, so weit, wie es nur geht, und die Dorfbewohner rufen laut "Ki Ki Soso Lar Ghyalo" - "Die Götter werden siegen". Dann wird auf die Figuren und das Fadenkreuz eingedroschen. Appu und Appi und auch die Saddhus entledigen sich ihrer Kostüme und schleudern sie zornig auf den Haufen mit den Figuren, bevor sie in ihre Gonchas, ihre Wollgewänder, schlüpfen. Das schlechte Alte ist nun fort und hat dem Frischen, Schönen Jungen Platz gemacht. Das Publikum jubelt. Das neue Jahr kann kommen. Die Mehlspur wird verwischt. Das Schlechte soll schließlich nicht den Weg zurück finden.

(RP)
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