Russland Im Reich der Tataren

Tatarstan ist hierzulande noch recht unbekannt. Zu Unrecht, denn im Herzen Russlands treffen Orient und Okzident friedlich aufeinander.

St. Petersburg, Moskau, Sochi - und Kasan? Nur wenige hierzulande kennen die viertwichtigste Reise-Destination Russlands. Das dürfte sich spätestens 2018 ändern, denn die Hauptstadt der russischen Republik Tatarstan ist einer von elf Austragungsorten der Fußball-WM. Bislang gilt sie noch als Geheimtipp. Nur knapp 6000 Deutsche verirrten sich vergangenes Jahr in das rund 800 Kilometer östlich von Moskau gelegene Zentrum tatarisch-russischer Kultur.

Die Besucher werden es nicht bereut haben. Sie haben Kulturschätze der Wolga-Bulgaren, Mongolen und Russen bewundert und mehr über deren spannende und oft spannungsreiche Geschichte erfahren, prächtige Moscheen und Kirchen besichtigt. Vor allem aber haben sie eine Region an der Wolga kennengelernt, in der Christentum und Islam in Harmonie und Toleranz koexistieren. Das jedenfalls versichern offizielle Vertreter der Tourismusindustrie.

Entspannt schlendern die Menschen durch die Baumannstraße, die zentrale Einkaufsstraße der vergleichsweise wohlhabenden Stadt - Tatarstan ist eine der wichtigsten Erdöl-Regionen Russlands. Die jüngeren Bewohner würden auch in westlichen Städten nicht weiter auffallen, ältere tatarische Frauen erkennt man manchmal am Kopftuch, Männer am geschmückten Hut ohne Krempe.

Rund 48 Prozent der Einwohner Kasans sind Russen, etwa 47 Prozent Tataren. Kasan sei die einzige Stadt in Russland mit einer solch fast paritätischen Zusammensetzung, heißt es. Während religiöse Russen meist der orthodoxen Kirche angehören, sind die Tataren überwiegend Moslems. Ihre ans Türkische erinnernde Sprache verrät die Herkunft. Wie alle Turkvölker sind sie aus Asien eingewandert. Heute sind sowohl Tatarisch als auch Russisch Amtssprachen.

Die kulturelle Vielfalt prägt das Stadtbild, was man besonders eindrücklich im Kreml (Festungsanlage) beobachten kann. Zwischen den Mauern der zum Weltkulturerbe gehörenden Anlage erhebt sich majestätisch die erst 2005 eröffnete Kul-Scharif-Moschee.

Das nach dem letzten Imam von Kasan vor der russischen Eroberung benannte blendend weiße Gotteshaus mit seinen blauen Dächern war die größte Moschee Russlands, bis später in Moskau und Tschetschenien noch größere gebaut wurden. Doch nicht immer war es in Tatarstan so friedlich; die ursprüngliche Moschee war von den Russen bei der Eroberung Kazans zerstört worden.

Die neue 57 Meter hohe Moschee ist heute mit ihren acht Minaretten (der maximal erlaubten Zahl außerhalb Mekkas) die architektonische Dominante im Kreml-Ensemble. Deshalb war ihr Bau zunächst auch umstritten. Doch nun fügt sie sich opulent, aber friedlich ins Bild, in Nachbarschaft zum Präsidentenpalast und der imposanten Mariä-Verkündigungs-Kathedrale, die älteste der Stadt.

Bei der Einweihung im Jahr 1562 diente das weiße Steingebäude mit seinen markanten blau gedeckten Zwiebeltürmen sicherlich als Ausdruck der Macht der neuen Herren im Lande. Zehn Jahre zuvor hatte Zar Ivan, genannt der Schreckliche, die Stadt und die Region erobert. Doch heute sieht man im Nebeneinander der beiden beeindruckenden Gotteshäuser innerhalb der Kreml-Mauern ein Symbol der friedlichen Koexistenz.

Wer sich für die abwechslungsreiche Geschichte Tatarstans interessiert, sollte auch die beiden Orte Bolgar und Swijaschsk besuchen. Während erstere von Hochkulturen in vor-russischer Zeit zeugt, erinnert Swijaschsk an einen Militärstreich, durch den schließlich Zar Ivan IV. die Region erobern konnte.

(RP)
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