Mit dem Rad durch Irlands wilden Westen

Eine stillgelegte Eisenbahnstrecke im Westen Irlands ist wieder zum Leben erwacht. Dort sind mehr Radler und Wanderer unterwegs als damals Passagiere.

Vor zwei Stunden ist noch ein heftiger Regenschauer niedergegangen, doch nun brechen sich die Sonnenstrahlen ihren Weg durch die Wolken. In der Ferne ist die dunstig blaue Gipfelsilhouette der Nephin Beg Range auszumachen. Die Glew Bay, eine durch mehrere dutzend Inseln vom Atlantik geschützte Bucht, ist nicht weit entfernt. Im Vordergrund fährt eine Gruppe Radfahrer durchs Bild, auf gerader Strecke, die ein Holzgatter zu einer benachbarten Weide begrenzt.

Einst schnauften hier dunkelgrüne Dampflokomotiven der Westport-Achill Rail Line durch die einsame Landschaft der irischen Provinz Mayo. Doch wirklich erfolgreich war die 1894 gegründete Gesellschaft nie. Zu dünn besiedelt war die abgelegene Region. Viele der Landarbeiter waren so arm, dass ihnen nicht einmal der volle Preis für das Bahnticket abverlangt wurde. "Mayo - so help me god" heißt es selbst heute noch zuweilen, auch wenn sich die wirtschaftlichen Bedingungen im County seither deutlich gewandelt haben. Als mehr Straßen gebaut wurden, auf denen Autos Menschen und Lasten transportierten, schlug 1937 die Totenglocke der Bahngesellschaft. Die Schienenstränge wurden verschrottet, die Trasse fiel in einen Dornröschenschlaf.

Erst in den vergangenen Jahren erinnerten sich Lokalpolitiker an die lange stillgelegte Strecke. Sie kauften privatisierte Bahngrundstücke zurück und ließen die alte Trasse für Radfahrer und Wanderer umgestalten. Die Erwartungen für das erste Jahr nach der Fertigstellung 2011 waren bescheiden. 50 000 Menschen, so schätzten die Verantwortlichen, würden das neue Freizeitangebot nutzen. Tatsächlich wurden es fast drei Mal so viele. Inzwischen radeln und wandern mehr als 200 000 Menschen im Jahr auf der 42 Kilometer langen "Great Western Greenway" getauften Panoramastrecke.

Es geht über alte Steinbrücken, die schon tonnenschwere Lokomotiven tragen mussten, über neugebaute schlanke Plankenwege mit blauen und roten Geländern, die moorige Passagen überqueren. Zuweilen schirmen Zäune Schafherden vom Weg ab. Die Schafe verteilen sich wie weiße Kugeln über die grünen Weiden. Selten kommt man ihnen so nahe, dass man die abenteuerlich gedrehten Hörner der Böcke bestaunen kann.

Klar, dass die Region vom Zustrom der Aktivurlauber profitiert. Lebensmittel- und Souvenirgeschäfte, Restaurants und Hotels freuen sich über den Anstieg der Kaufkraft. Auch neue Arbeitsplätze entstehen. Paul Harmon, früher Ingenieur für Straßenbau, verleiht und verkauft seit einigen Jahren mit wachsendem Erfolg Fahrräder, darunter viele E-Bikes. "Viele Urlauber schätzen es, wenn bei Gegenwind die Batterie das Vorankommen unterstützt", sagt der hochgewachsene Ire, der inzwischen mit Kollegen in benachbarten Countys ein Netzwerk für Fahrradurlauber aufbaut. "Viele kommen gerne im Herbst, wenn der Sommer zu Ende geht. Dann ist es hier besonders schön", erzählt Harmon, der vorsichtshalber immer eine winddichte Jacke mit Kapuze dabei hat.

Wer es ganz gemütlich angehen lassen will, teilt die 42 Kilometer lange Strecke in drei Abschnitte. Die Route von Westport nach Newport misst elf Kilometer, von dort sind es 18 Kilometer bis nach Mulranny und weitere 13 Kilometer bis zur Michael-Davitt-Brücke nach Achill Island. Dort endet der Great Western Greenway, aber nicht die spektakuläre Landschaft der irischen Westküste. Das Infobüro gleich am Achill Sound hält Karten und Beschreibungen für die vielen Attraktionen der Insel bereit, die am 40 Kilometer langen Atlantic Drive auf ausdauernde Radler warten. Die Touren führen zur weiten sichelförmigen Strandbucht Keem Bay, dem verlassenen Dorf Slievemore und der Ruine der wuchtigen Hochburg Kildavet. Alles eingebettet in den wilden Westen Irlands.

(RP)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort