"Große Freiheit Nr. 1" Nachtzug nach Lissabon

Lissabon · Das Interrail-Ticket bedeutete 1987 Freiheit und Abenteuer - vier Wochen mit dem Rucksack durch Europa.

 Antje Höning 1987 während ihrer vierwöchigen Rucksack-Tour mit schmaler Reisekasse und einem Interrail-Ticket.

Antje Höning 1987 während ihrer vierwöchigen Rucksack-Tour mit schmaler Reisekasse und einem Interrail-Ticket.

Foto: Antje Höning

Der Eintritt ins Paradies kostete 420 Mark. Dafür gab es damals, als die Bahn noch Deutsche Bundesbahn hieß, ein Interrail-Ticket zweiter Klasse. Einen Monat lang hatten junge Menschen freie Fahrt durch 21 Staaten Europas und Marokko. Die coolen Jungs fuhren mit dem Ticket bis Tanger, die Meilenmacher über Helsinki nach Athen. Und die weniger mutigen Mädchen machten die klassische Tour: Paris, Madrid, Lissabon, dreimal Hauptstadt und zurück.

Mit einem geliehenen grünen Rucksack ging es am 22. August 1987 los, im Nachtzug von Essen nach Paris. Mit Zelt, Schlafsack, Brustbeutel (darin Francs, Peseten und Escudos) - und genau zwei Büchern. Ein Reiseführer für ganz Europa (wer weiß, wie weit man kommt?) und ein Buch "Ökonomen verändern die Welt" (hat man lange was von). Als Notration nahmen wir, mein Freund und ich, ein Kilo Reis mit. Ebenso schwer wie überflüssig: Wenn es irgendetwas überall auf der Welt gibt, dann Reis. Aber das merkten wir erst unterwegs.

Der Eiffelturm von unten

In Paris sahen wir den Eiffelturm nur von unten an. Das Eintrittsgeld hätte unsere Reisekasse gleich am Anfang gesprengt. Seine-Ufer und Notre-Dame waren zum Glück umsonst. Wir übernachteten im Bois de Boulonge, ein Campingplatz inmitten von Paris. Dass ein sommerharter Sandboden Luxus sein kann, wenn er zu einem Campingplatz gehört, wussten wir erst, als wir später mal keinen fanden.

Interrail bedeutet große Freiheit: War es schön, blieben wir. Regnete es, nahmen wir den nächsten Zug und fuhren in die Sonne. Zugleich gibt das Ticket Sicherheit: Fanden wir in der neuen Stadt keinen Schlafplatz, warteten wir auf einen Nachtzug und schliefen dort. Das hat meistens funktioniert. Da viele Jugendliche unterwegs waren, reichte es manchmal nur für einen Platz im Gang, was uns nette Begegnungen brachte.

Jedenfalls meistens. Auf dem Weg nach Paris trafen wir auf einen alten Elsässer, der uns gleich mit Choucroute (Sauerkraut) und Hitler kam - offenbar das einzige, was ihm zu Deutschland einfiel. Auf dem Weg von Paris nach Madrid saßen wir mit einer baskischen Familie im Abteil. Wir spielten mit der Tochter Schnickschnackschnuck, die Mutter verteilte baskischen Schinken an alle. Der Vater sagte kein Wort. Wir dachten: Für oder gegen die ETA?

Die Beine baumeln lassen

Im spanischen Grenzort Irun mussten alle den französischen Zug verlassen und Hundert Meter laufen, um in die spanische Bahn umzusteigen. Diese fuhr mit einer anderen Spurbreite. Inzwischen hat die EU-Kommission in ihrem Normierungswahn die Spurbreiten wahrscheinlich angepasst.

Und Zugfahrten wie die, die wir zwei Wochen später zwischen Lagos und Lissabon hatten, sind heute sicher verboten. Bei dem kleinen Regionalzug standen während der ganzen Fahrt die Türen auf, Klimaanlagen gab es noch nirgends. Wir saßen im Türrahmen, ließen die Beine baumeln und die portugiesischen Pinienwälder vorbeiziehen.

In Lissabon stand die Altstadt noch, die Straßenbahn zuckelte durch enge Gassen die Berge hoch. Ein Jahr später, im August 1988, brannte die Altstadt nach einem rätselhaften Kaufhausbrand völlig ab.

Wir stiegen am Hafen den Turm von Belem hinauf, und wunderten uns, dass die japanischen Frauen es in ihren Flipflops auch geschafft hatten. Die wunderten sich wahrscheinlich über meine Birkenstock-Sandalen (Modell Rio, mit Riemchen hinten). Ich sah zum ersten Mal ein lesbisches Paar, so viel Offenheit gab es zu Hause nicht.

Eine Reise, drei Hauptstädte: Von Ost nach West nahmen unsere Sprachkenntnisse ab, in Portugal reichte es nur noch für "obrigado" (danke). Doch je weniger wir sagen konnten, desto hilfsbereiter wurden die Menschen. Große Freiheit bedeutet aber auch frei sein von großem Geld und großer Struktur. Die Reisekasse reichte meistens nur für Baguette, Käse und Weintrauben, woran wir uns gerne gewöhnten. Morgens aber nicht zu wissen, wo man abends schläft, kann auch richtig Stress machen. So wie in Sevilla, wo wir nicht rechtzeitig eine bezahlbare Herberge gefunden hatten. Daraufhin machten wir es uns auf der Bank in der Bahnhofshalle bequem, doch um 22 Uhr kam die Guardia Civil und räumte die Station. Also schliefen wir auf der Straße, bei 30 Grad, inmitten des Nachtverkehrs einer andalusischen Großstadt.

Ab an die Algarve

Wir waren endgültig urlaubsreif - ab an die Algarve. Im westlichsten Ort von Portugal, der mit der Bahn noch zu erreichen war, zelteten wir direkt an der Küste und schliefen uns erstmal aus. Der Atlantik donnerte an den Strand, hier gab es Wellen, vor denen der Rhein Angst bekommen hätte.

Einmal pro Woche riefen wir von einer Telefonzelle aus zu Hause an und sagten, wo wir gerade waren. Freunde bekamen Postkarten, die Wochen nach uns zu Hause ankamen.

Jetzt blättere ich in dem braunen Ticket-Heft, in dem die Schaffner von DB, SNCF und RENFE die einzelnen Etappen abgestempelt haben. Auf der letzte Seiten stehen alle Bahnen, die man nutzen durfte. Die "JZ Gemeinschaft der Jugoslawischen Eisenbahnen" war auch dabei. In Europa ist viel passiert seit 1987.

(anh)
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