Schon mal Blei gegessen?

Auf dem abgeschiedenen Lieper Winkel ist Usedom noch ganz ursprünglich - eine tolle Möglichkeit, die bekannte Insel einmal anders zu erleben.

Bernd Reschke schiebt eine Lage Lachsforellen in den Räucherofen. "Wir arbeiten hier noch traditionell über dem offenen Feuer", erzählt der studierte Fischereibiologe im kleinen Rankwitzer Hafen in Mecklenburg-Vorpommern. "Nur so können die Inhaltsstoffe des Holzes direkt auf den Fisch übergehen. Das gibt einen intensiv rauchigen Geschmack und dunkles Fleisch. Fast so wie Schokolade." Reschke lacht und hängt die nächsten Lachsforellen in das Räuchergitter.

Im Hafen von Rankwitz auf der Usedomer Halbinsel Lieper Winkel ist Reschkes traditionelle Fischräucherei ein beliebtes Ziel von Einheimischen und Urlaubern. Hier im Achterland, im grünen Hinterland der modernen Kaiserbäder Bansin, Heringsdorf und Ahlbeck, wo nur eine Straße durch die Landschaft führt und die Hand voll Dörfer mit ihren 600 Einwohnern seit jeher über Steinbohlen miteinander verbunden sind, kommt noch Fisch aus dem Achterwasser auf den Tisch. Die süße Lagune, die den Lieper Winkel zusammen mit dem Peenestrom umschlingt, ist so flach, dass sich ihr Wasser im Sommer auf 20 Grad erwärmt. Was gut für Segler und Surfer ist, macht den Fischern zu schaffen. "Früher wurde hier sehr viel Aal gefangen", weiß Reschke. "Davon konnten die Familien vom Lieper Winkel ganz gut leben. Jetzt bleibt der Aal aber weg. Die wenigen Berufsfischer, die es hier heute gibt, nehmen deshalb auch Zander und Schnäpel mit."

Schon vor mehr als 400 Jahren war das ehemalige Wald- und Sumpfgebiet Lieper Winkel ein bekanntes Fischerdomizil. Damals konnten die Männer ihre kleinen Orte nur per Boot erreichen. Die einzige Straße entstand erst Ende des 19. Jahrhunderts. Bis dahin sah man sie in den traditionellen weißen Leinenhosen, bunten Westen und farbigen Strumpfbändern über die Felder und das Wasser ziehen. Nirgendwo auf Usedom war das Tragen einer Tracht so lange üblich wie auf der abgelegenen Halbinsel.

Heute findet man hier Ruhe und Idylle. Ein Paradies für Urlauber, die in der Abgeschiedenheit eine Auszeit von den quirligen Kaiserbädern suchen. Auf den weitläufigen Wiesen dösen Limousin-Kühe. Am Wegesrand stehen Marmeladen-Variationen zum Verkauf. Ein handbemaltes Holzschild weist den Weg zum einzigen Lebensmittelmarkt. Ab und zu lugt ein weißes Segelboot durch die endlos goldene Uferwand aus Schilfröhricht, ruft ein Seeadler von einer Esche.

In Liepe, dem Ort, der der Halbinsel ihren Namen gab, sprenkeln hübsche Reetdachhäuser mit weißen und himmelblauen Fassaden die Halbinsel und den Ort um die St. Johannes Kirche. Der rote Backsteinbau mit dem ebenerdigen Glockenstuhl ist Liepes ganzer Stolz, vor 800 Jahren erstmals erwähnt und damit das älteste Gotteshaus auf Usedom. An der Westküste in Quilitz, wo bunte Finnhäuser unter schattigen Kiefern Ruhe suchende Urlauber locken, fand man noch ältere Schätze. 1914 stieß ein Bauer bei Grabungsarbeiten auf mehr als 2000 Silbermünzen. Dazu Goldperlen, silberne Ketten, Ohrringe, Armreifen. Ein Schatz, den die Slawen 900 Jahre zuvor vergruben, als sie von hier aus Handel mit England und den Niederlanden über den Peenestrom trieben. Ob sie ihre Heimat Lipa nannten (zu Deutsch Lindenort), weil es hier Linden gab oder zumindest eine Dorflinde als zentralen Treffpunkt oder um dem Ort eine heilige Bedeutung zu geben - für die Slawen waren Linden heilige Bäume -, bleibt ungewiss. Doch wer ein Dorf weiter in Warthe zum Sonnenuntergang am Naturstrand sitzt, die Kormorane beobachtet, wie sie auf einem halb versunkenen Schiffswrack spielen, wird der Atmosphäre dieses Ortes sicher etwas Göttliches abgewinnen.

Im Rankwitzer Hafen holt Bernd Reschke derweil seine Lachsforellen aus dem Räucherofen. "Haben Sie schon mal Blei gegessen?", fragt er eine Kundin. Der Karpfenfisch mit dem Perlmuttglanz fühlt sich im Achterwasser wohl. Nur beliebt ist er nicht. "Wenn wir mal Blei anbieten, dann liegt der hier so wie er heißt: wie Blei", sagt Reschke. Nur die Einheimischen wissen ihn zu schätzen, genießen ihn geräuchert oder legen ihn in Biersoße ein, damit sich die kleinen Gräten auflösen. "Vielleicht kommen die Urlauber ja irgendwann auch auf den Geschmack." Reschke klingt zuversichtlich.

Die Redaktion wurde von Wikinger Reisen zu der Reise eingeladen.

(RP)
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