Wo der Mythos (k)lebt

Die Piazza Grande ist Modenas Wohnzimmer. Einheimische und Besucher flanieren über den Platz, am zu groß geratenen Dom scheinbar lauernd beäugt von zwei wuchtigen Steinlöwen, die den Seiteneingang bewachen. Auf der Treppe kauern zwei Jungs. Lautstark fuchteln sie mit aufgefächerten Kärtchen herum: "Nicht mal gegen Ronaldo, Schweinsteiger und Klose zusammen tausche ich meinen Julian Draxler", wettert der kleinere, Schwarz-Gelockte und rückt den Schalker Nationalspieler nicht raus - weltweit eines der meistgesuchten Sammelbilder für's Panini-WM-Album 2014. Sie reißen voller Hoffnung auf fehlende Kicker weitere Tüten auf, eben erstanden für 60 Cent pro Stück am Kiosk um die Ecke, wo die Panini-Story begann.

Mama Olga Panini, Kriegswitwe mit acht Kindern, verkauft hier seit 1946 Zeitungen und Zeitschriften. Viele gibt's damals nicht, und so reicht es bei den Paninis jahrelang kaum für eine warme Mahlzeit pro Tag. Sohn Guiseppe, der älteste, hat mit seinen Brüdern eine clevere Altpapier-Geschäftsidee: Man nehme Zeitungen und Zeitschriften der Vorwochen, dazu einen Luftballon und "Figurine" - Sammelbilder, die damals üblicherweise in Zigarettenpackungen als Zugabe klemmen. Alles zusammen in einen Papierumschlag, zukleben und als "Wundertüte" anbieten. Die kommen gut an bei den Kiosk-Kunden, besonders die "Figurine". Also setzen die Brüder auf reine Bildertüten mit italienischen Fußballern - ab 1961 Paninis erster Sammelbild-Renner, beginnend mit Bruno Bolchi, dem Kapitän von Inter Mailand.

Er prangt heute, leicht vergilbt, in Modenas "Museo della Figurina". Von den Panini-Brüdern gegründet und kostenlos zu besichtigen, zeigt es die Geschichte der Sammelbilder, beginnend um 1870 im Pariser Kaufhaus "Au Bon Marché": Kostenlose bunte Kärtchen, beliebt vor allem bei Kindern, die ihre Mütter zu weiteren Einkaufsbesuchen drängen, um die Bildersammlung zu komplettieren. Paninis Erfolgsstory präsentiert das Museum erfreulich bescheiden: Die 600 Millionen Euro Jahresumsatz in 110 Ländern stehen nirgendwo, zu sehen ist aber, womit sie erreicht werden: Nach Fußballern folgen Alben mit Flugzeugen und Raketen, Comic-Helden und Pop-Ikonen. Ein Hingucker auch die Weiterentwicklung der Bilder: Zuerst noch schwarz-weiß und mit Fotoecken umständlich im Album zu arretieren, bald schon nachkolorierte Fotos, in den 1970ern dann farbige, selbstklebende und heute schließlich 3D-Glitzer-Sticker. Auch in Zeiten von Internet und Smartphone noch immer Droge für Milliarden Kleber und Sammler weltweit, nicht nur für Kinder, sondern auch für den nordrhein-westfälischen Bauminister Oliver Wittke (CDU), der 2006 während einer Landtagsdebatte beim Einkleben seiner Bilder gefilmt wurde.

Panini - längst ein Gattungsbegriff wie Tesa oder Tempo, aber ohne jede Helden-Huldigung in Modena. Keine Panini-Straße, kein Platz, kein Denkmal. Nur ein Hinweis auf die nächsten Spiele der hiesigen Volleyballer - im Panini-Sportpalast, benannt zu Ehren von Giuseppe, begeisterter Volleyballer und langjähriger Sponsor des Erfolgsclubs. So steht's auf einem Plakat an der zentralen Via Emilia. Schmalere Gassen gruppieren sich um sie herum wie Schichten einer Zwiebel. Praktisch, weil man so beim Bummeln durch die vielen, oft unter Arkaden liegenden Geschäfte nie in den Stadtplan schauen muss. Egal, ob man sich im Feinschmecker-Imbiss "Giusti" mit Kolonialwarenladen-Theke und Sonnensitzplätzen stärkt, in Suzanna Martinis Murano-Glass-Schmuck-Boutique "La Gioja" stöbert oder bei "La Vacchetta Grassa" den Handwerkern beim Nähen von Ledergürteln und -taschen zuschaut - früher oder später steht man auf einer "Ach-hier-sind-wir"-Kreuzung und weiß, wo man ist.

Modenas Altstadtfassaden strahlen in leuchtenden Pastell-Variationen, so als hätten die Maler einen XXL-Tuschkasten benutzt. Die schönsten Farbspiele bietet die Via Castel Maraldo, Paninis erster Firmensitz - in den frühen 1960ern geprägt von purer Handarbeit: Im Keller werfen Giuseppe, Franco und Benito die Bilder mit Schaufeln durcheinander und mischen sie per Handkurbel in einem Butterfass, damit ja keines doppelt in eine Tüte kommt. Auf Dauer zu mühselig, darum rufen sie Bruder Umberto, zwischenzeitlich für eine Ölfirma nach Venezuela ausgewandert, zurück. Der Tüftler soll eine Bilder-Misch-, Sortier- und Eintüt-Maschine erfinden. Seine "Fifimatic" läuft bis heute, in der 1965 gebauten Panini-Fabrik außerhalb der Altstadt. Ein schmuckloses Gebäude, nichts deutet drauf hin, dass hier in WM-Jahren täglich mehr als 60 Millionen Sticker produziert und in die Welt hinaus transportiert werden.

(RP)
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