Service Wo im Winter die Wölfe jagen

Es kann im Winter verdammt kalt werden in Estland. Dann friert vor der Küste die Ostsee zu - und der Peipussee auch. Die einen gehen dann Eisangeln, andere suchen Wolfsspuren im Wald oder stapfen über zugefrorene Moore.

Märt steht am Strand. Er trägt Wollmütze und Handschuhe, hat einen Pullover an, eine Fleecejacke und darüber noch eine winddichte Allwetterjacke. Seine breiten Stiefel sehen so aus, als könnte man damit kilometerweit übers Eis laufen. Hinter dem Strand von Kallaste liegt der Peipussee. Er ist riesig, achtmal so groß wie der Bodensee. Am Peipussee ist Estland zu Ende. Man könnte durch ihn bis nach Russland schwimmen. Nur nicht im Winter. Dann ist er vollständig zugefroren, wochenlang.

Im Winter fallen die Temperaturen schon mal unter minus 15 Grad. Weit draußen, auf der Eisfläche, stehen mehrere bunte Windmuscheln, daneben sind überall dunkle Punkte zu erkennen. "Eisangler", sagt Märt. Dutzende, die sich über die weite Eisfläche verteilen, regungslos vor ihrem handtellergroßen Eisloch sitzen und die Angel in das eisige Wasser halten, manchmal stundenlang, als wären sie festgefroren.

Direkt hinter Märt steht einRaupenfahrzeug kanadischer Produktion, das an einen kleinen Panzer erinnert. Robust ist es auf jeden Fall - man kann mit ihm kilometerweit über das Eis fahren. Genau das hat Märt jetzt vor. Er bringt Touristen auf den See. Ein kleiner Ruck, und das Fahrzeug fährt an. Märt gibt Gas. Die Eisangler kommen immer näher. Eine Gruppe ist etwas größer als die anderen. Sie hat schon einen Tisch aufgestellt und einen Dreifuß mit einem riesigem Topf, in dem Suppe köchelt: Pilzsoljanka. Davor steht Triinu Akkermann und lacht. Die 33-Jährige lacht ziemlich oft, weil sie tut, was ihr Spaß macht: Besuchern aus allen möglichen Ländern zeigen, was am Eisangeln auf dem Peipussee so besonders ist.

Ein Stück weiter landeinwärts zwischen Pärnu und Viljandi liegt der Soomaa Nationalpark, wo man ganz andere Abenteuer erleben kann. Das Eis ist hier sogar an Land spiegelglatt. Bert und Algis verteilen Schneeschuhe, die das Laufen gleich deutlich einfacher machen, weil sie Spikes an der Unterseite haben. Die beiden arbeiten als Naturführer im Nationalpark und wollen die Gruppe heute auf eine Moorwanderung mitnehmen.

Sooma heißt Moorland- und das passt auch. Hier im Nationalpark gibt es das größte Hochmoor des Baltikums - und eines der größten in ganz Europa: 400 Quadratkilometer nichts als Heidekraut, Kiefern und Birken. Jetzt im Winter sieht die Landschaft noch karger aus, fast unwirklich, die Bäume ohne Laub, der Himmel grau.

Am Abend ist es draußen stockdunkel, kein Licht, nirgends. Bert hat angeboten, mit dem Wagen noch einmal in den Wald zu fahren - zu den Wölfen. Unterwegs ist eine Waldohreule auf einem Pfahl zu sehen, und ein Fuchs läuft quer über die Straße. Sonst ist es so einsam wie immer. Bert fährt zum Nationalparkzentrum im kleinen Dorf Tipu, 25 Kilometer von Viljandi entfernt. Dort steht ein Beobachtungsturm. Es ist nichts zu hören außer dem Pfeifen des eisigen Windes. Umso überraschender klingt das langgezogene Heulen, das plötzlich aus der Dunkelheit kommt. Die kleine Gruppe rückt enger zusammen und starrt in den Wald. Noch einmal heult es, als rufe dort Remus Lupin, der Werwolf aus "Harry Potter", nach seinen Verwandten. "Das ist Bert", sagt jemand. Er imitiert das Heulen der Wölfe, um sie anzulocken. Aber sie reagieren nicht.

Wölfe dürfen in Estland gejagt werden, Luchse und Bären auch. Jagdsaison ist von Anfang November bis Anfang März. "Wir haben in Estland rund 700 Braunbären", erzählt Bert. "Aber es gibt keine Höhlen. Wenn sie Winterschlaf machen wollen, bauen sie sich Nester." Angst davor, ihnen zufällig zu begegnen, müssen Touristen nicht haben - das Risiko gilt als ziemlich gering.

(DPA-TMN)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort