Dinslaken Verwirrte Träumer im Wartesaal des Todes

Dinslaken · Burghofbühne feiert gelungene Premiere: Laienensemble überzeugt in Tankred-Dorst-Stück "Ich bin nur vorübergehend hier".

Wenn sich der Tod verkriecht, verliert die Zeit ihre Bedeutung. Wenn niemand mehr stirbt, wird das Leben zur Endlosschleife, in dem sich Geschehenes immer und immer wiederholt. Die Gegenwart existiert nicht mehr.

Die Sterne erstarren. Der Mond steht still. Den Alten, die es in dieses Niemandsland verschlagen hat, fehlt jegliche Orientierung. Sie irren umher und verirren sich in sich selbst. Und doch senden sie Botschaften. Von Liebe und Glück, vom Scheitern, von der Einsamkeit und verpassten Chancen, erlittener Schmach und Todesangst. Tankred Dorst sperrt die Alten in einen weißen Raum irgendwo im Nirgendwo.

"Ich bin nur vorübergehend hier" heißt sein tragikomisches Stück, das 2007 in Hannover uraufgeführt wurde. Walter Spethmann inszeniert es an der Burghofbühne mit 13 Laienschauspielern und einem Profi. Die Premierengäste in der voll besetzten Kathrin-Türks-Halle waren begeistert.

Spethmann baut auf Poesie und Ironie. Melancholisch, komisch, absurd und mitunter auch sehr anrührend sind die Szenen, in denen all die verstörten Sonderlinge und verwirrten Träumer ihre Lebensbeichte ablegen. Der Regisseur vertraut seinen Darstellern, fordert sie heraus und wird mit Spielfreude und Können belohnt. Es gelingt der Gruppe, die unterschiedlichen Charakteren in einer überzeugenden Ensemble-Leistung auf die Bühne zu bringen. Mitunter vergisst der Zuschauer sogar, dass er es hier mit Laien zu tun hat.

Richter Dahms (großartig Wolfgang Bock) redet über die Traumata seiner Kindheit und faselt über Gerechtigkeit. Sonny (Adolf Kraßnigg souverän und cool) beschimpft die Seniorenclique als "halbverweste Kadaver" und verhöhnt seine erbschleicherischen Verwandten mit zynischen Botschaften, die er auf Video aufnimmt.

Dieter Stöhr gibt Doktor Büttner als morbiden Charmeur, der über Euthanasie salbadert und die Damen mit Geschichten über Hammermorde verstört. Die demente Nelly (Margret Neu erspielt sich mehrfach Szenenapplaus) begegnet im Rollstuhl Herrn Röllecke (Hans West), der sich als ihr Romeo aus einem Jugendtheaterstück vor 64 Jahren vorstellt und ihr so linkisch den Hof macht, dass sie zur Trillerpfeife greift. Jörg Merten überzeugt als Mann mit den Ohrenschützern. In Selbstgesprächen brabbelt er von seiner Frau, die bei einem Bombenanschlag ums Leben kam und vom Brummen der Hummeln, das ihm das Hirn zermartert.

Und dann ist da noch Alma (Jutta Ulrich), die alte Pennerin, die sich so verhält, wie man es von einer vulgären Schlampe erwartet: als der letzte Dreck, der auf alles schimpft und "auf die Gesellschaft scheißt". Wie die anderen sehnt auch sie sich nach dem Tod. Doch der hat sich in einem Baum verheddert und lässt sich weder mit einem Hering noch einer verschrumpelten Möhre aus dem Versteck locken. Frau Schilagi (Ruth Wendt) ist das völlig gleichgültig. Gestützt auf zwei Krücken, schleicht sie hüftsteif umher; und da sie nicht weiß, wo sie hin will, macht es ihr auch nichts aus, dass sie niemals ankommt.

Wer sich im Wartesaal des Todes einrichtet, nimmt auf nichts und niemanden Rücksicht. Schon gar nicht auf Eindringlinge, die stören. Das Kind (Lara Christine Schmidt) stiftet von Anfang an Unruhe. Auf einem Roller rast es durch die Zwischenwelt der Alten, frech, übermütig, respektlos. "Das Kind wird uns Ärger machen", prophezeit der Richter. Er behält Recht. Denn dieses Kind, das — ganz in Rot — wie ein kleiner Teufel über die Bühne wirbelt, erinnert ihn daran, dass er selbst nie eine Kindheit hatte. "Ich bin alt geboren, und alt bin ich geblieben."

Die Aggression der Senioren gegen das Mädchen, das vielleicht ein Junge ist, wächst. Sie töten den Störenfried, reißen seine Kleidung in Stücke und stopfen sich die roten Stofffetzen in die Tasche. Tote Souvenirs zur Erinnerung an die Liebe, die sie mal erlebt, die Kraft, die sie mal in sich gespürt haben, an das schöne Gefühl zu wissen, was Leben ist. Das Schlussbild zeigt die Alten mit Papiertüten über dem Kopf, beklebt mit Porträtfotos aus ihrer Jugend. Ein starkes Bild, das lange nachhallt. Kein großer, aber ein guter Theaterabend. Freundlicher, lang anhaltender Applaus.

(RP)
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