Geldern Sie nennen es „Forschung“

Geldern · Nach Leiharbeitsfirmen hat Verkleidungsjournalist Günter Wallraff nun Callcenter als Brutstätten von Ausbeutung und Missständen ausgemacht. Auch die Betriebsordnung von "Kern Connect" hat es in sich. Ganz legal.

Weeze Wenn Sie einer der freundlichen Callcenter-Agenten der Weezer Kern Connect GmbH anruft, zu deren Ansiedlung auf dem Airport Bürgermeister Ulrich Francken und Landtagsabgeordneter Norbert Killewald Anfang Juli freudig gratulierten (die RP berichtete), sitzt am anderen Ende der Leitung ein junger Mann oder eine junge Frau, deren eMails vom Chef mitgelesen werden, die am Arbeitsplatz nichts essen darf und deren 30-minütige Pause bei einem neunstündigen Arbeitstag (Grundlohn: 7,50 Euro die Stunde) nicht mitbezahlt wird.

Obwohl kein Kunde die Dauertelefonierer je zu Gesicht bekommt, schreibt ihnen eine vierseitige Betriebsordnung vor, Namensschilder auf "seriöser/gedeckter Kleidung" zu tragen. Mund- und Zungenpiercings sind ihnen nicht gestattet, dafür ist die Nahrungsaufnahme strikt geregelt: Auf mitgebrachte Lebensmittel müssen sie ihren Namen schreiben, aufbewahrt werden dürfen sie nur im Kühlschrank. Das Reinigungspersonal ist angewiesen, den kompletten Kühlschrank-Inhalt und auch Leergut jeden Abend wegzuwerfen. Private Handys sind verboten, die Annahme eingehender Privat-Anrufe muss ein Vorgesetzter genehmigen.

"Erfahrungen im Großraumbüro"

Arbeitsrechtler stufen die Betriebsordnung, die der RP vorliegt, als zwar hart, aber legal ein. Geschäftsführer Jens Uwe Kern rechtfertigt die Bedingungen mit "20 Jahren Erfahrungen im Großraumbüro". Er habe schon Mitarbeiter erlebt, die in Badehose zur Arbeit erschienen seien, und die mit ihren Speisen "lebende Kühlschränke" errichtet hätten. Dem wolle er vorbeugen. Und was das Mitlesen der eMails angehe: Da den Mitarbeitern im Callcenter die private Internetnutzung per se verboten sei, könne das Unternehmen ja gar nicht in die Verlegenheit kommen, private Mails der Mitarbeiter zu lesen. . .

Im Weezer Callcenter konzentriert sich das Unternehmen, dessen örtlicher Geschäftführer der Weezer SPD-Lokalpolitiker Michael Franken ist, nach eigenen Angaben auf die Geschäftsfelder Tourismus, Inkasso und Marktforschung. Nach RP-Informatiionen haben die Mitarbeiter, die nach dem Zufallsprinzip bundesweit Bürger anrufen, Fragen zu stellen, wie: "Haben Sie ISDN? Haben Sie ein Handy? Welches Handy haben Sie? Auch Internet? Und Hautiere?" Für jedes erfolgreiche Gespräch soll es 10 Cent Prämie geben.

"Nichts ist aufschlussreicher"

Klingt ziemlich nach Anbahnung von Telefonverkäufen, oder? Franken winkt ab: Diese Anrufe seien von der "Forschungsfreiheit" gedeckt. Jens Uwe Kern ergänzt: "Die Daten werden anonym von einem Marktforschungsinstitut, mit dem wir zusammenarbeiten, ausgewertet." Auf seiner Internetseite wirbt "Kern Connect" etwas offensiver: "Sie möchten neue Kunden gewinnen und gleichzeitig erfahren, wie die aktuellen Anforderungen des Marktes aussehen? Dann haben wir die Lösung für Sie: Das Telefonmarketing. Nichts ist aufschlussreicher als das persönliche Gespräch mit den Kunden." Alles im Dienste der Forschungsfreiheit?

Der Deutsche Direktmarketing-Verband (DDV) wittert hinter kritischen Fragen und Wallraffs jüngsten Undercover-Recherchen für das Zeit-Magazin eine "schädigende und undifferenzierte" Medien-Diskussion und reagiert auf seine Weise: Er hat jetzt eine Düsseldorfer Werbeagentur ausgeguckt, um eine Image-Kampagne für Callcenter zu starten.

(RP)
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