Viersen Jugendamt: "Neue Kultur des Hinsehens"

Viersen · In Viersen bleibt die Zahl der Fälle, in denen Kinder dauerhaft aus der Familie genommen werden müssen, konstant. Bei akuten Gefahrensituationen nimmt sie das Jugendamt für kurze Zeit in Obhut.

Nach Angaben des Familienministeriums NRW ist die Zahl der Inobhutnahmen in Nordrhein-Westfalen in den vergangenen neun Jahren um durchschnittlich 34 Prozent gestiegen. Bei einer Inobhutnahme nimmt das Jugendamt in Situationen, in denen das seelische oder körperliche Wohl eines Kindes oder Jugendlichen akut in Gefahr ist, aus der Familie. Wie genau das Prozedere funktioniert, welche Kosten es verursacht und wie häufig die Inobhutnahme in Viersen vorkommt, erklären der Beigeordnete Dr. Paul Schrömbges, Jugendamtsleiter Paul Fülbier sowie Lars Schaath und Klemens Dercks vom Jugendamt Viersen.

Maßnahmen Beim Jugendamt werden zunächst ambulante und stationäre Maßnahmen unterschieden. Zu den ambulanten Maßnahmen gehören beratende Tätigkeiten durch Erziehungshilfen, Sozialpädagogen und Gruppenangebote. "Das sind Dienstleistungen, die die Eltern freiwillig in Anspruch nehmen", erklärt Dr. Paul Schrömbges. Bei diesen Maßnahmen bleiben die Kinder oder Jugendlichen in den Familien. Anders ist das bei den stationären Maßnahmen. "Die Kinder kommen dann bei Angehörigen, im Heim oder bei Pflegefamilien unter", sagt Klemens Dercks. Das verursache Kosten von 50 000 bis 80 000 Euro pro Jahr und Kind. "In diesem Bereich sind die Zahlen jedoch konstant", so Lars Schaath, Koordinator des Fachbereichs.

Inobhutnahme Ambulante Maßnahmen finden in Zustimmung mit den Erziehungsberechtigten statt. Anders sieht das aus, wenn ein Kind in einer akuten Gefahrensituation aus der Familie geholt wird. "Die Inobhutnahme ist ein rechtliches Konstrukt. Sie erfolgt durch Initiative des Jugendamtes", so Fülbier.

Häufigkeit Im Jahr 2010 wurden in 96 Fällen Kinder vom Viersener Jugendamt oder einer pädagogischen Einrichtung in Obhut genommen. 2011 gab es 110 Fälle — eine Steigerung von elf Prozent. "Hierbei handelt es sich um die Fallzahlen, nicht um die Zahl der Betroffenen", erläutert Schrömbges. So komme es vor, dass ein Jugendlicher innerhalb eines Jahres mehrfach davonläuft — sei es aus dem Heim oder von der eigenen Familie — und daher mehrfach in der Statistik vorkommt. Anders als oft unterstellt, seien es nicht nur sozial schlechter gestellte Familien, in denen eine Inobhutnahme vorkommt. "Bricht in einer gut betuchten Familie ein Rosenkrieg aus, kann es sein, dass Kinder während eines Streits aus der Familie genommen werden müssen, bis sich dieser gelegt hat", so Schrömbges. Gibt es dann in dieser Familie fünf Kinder, tauchen in einem Fall fünf Betroffene in der Statistik auf.

Prozedere Wird ein Kind in Obhut genommen, so verbleibt es dort wenige Tage oder Wochen. "Die Inobhutnahme ist eine kurze Phase, in der geklärt wird, wie es weitergeht — ob das Kind zurück in die Familie kann oder stationär untergebracht werden muss", so Dercks. Während dieser Phase werden die Kinder entweder in einer spezialisierten Einrichtung oder in Bereitschafts-Pflegefamilien untergebracht. In letzterem Fall entstehen Kosten zwischen 700 und 900 Euro monatlich. Kommt danach eine stationäre Maßnahme infrage, tauchen die Betroffenen in der Statistik stationärer Fälle auf, die nach Aussage des Jugendamtes konstant ist.

Beachtung Die Aufmerksamkeit in der Gesellschaft sei ein Grund für die größere Beachtung solcher Fälle. "Kinderärzte, Kitas und Nachbarn melden sich heute häufiger, wenn ein Verdachtsfall besteht", so das Jugendamt. "Wir haben eine neue Kultur des Hinsehens. Die Pädagogik ist zur Gesellschaftsaufgabe geworden", sagt Schrömbges.

(RP)
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