Tönisvorst/Krefeld Nachspiel eines jahrelangen Martyriums

Tönisvorst/Krefeld · Zwei Mädchen aus Moers verlieren ihre Mutter und kommen nach Tönisvorst zu einer Pflegemutter. Beim Berufungsverfahren in Krefeld wird das ganze Desaster deutlich. Die Rolle des Moerser Jugendamtes ist merkwürdig.

Dunja L. ist sprachlos, als sie den Gerichtssaal im Krefelder Landgericht verlässt. Im Berufungsverfahren gegen ihre ehemalige Pflegemutter liest Richterin Christin Kraft-Efinger aus den Akten vor, was das Kreisjugendamt Viersen der angeklagten Pflegemutter für sie und ihre ältere Schwester Aziza bezahlt hat. Neben jeweils 1000 Mark im Monat kommen noch Gelder für Weihnachten und Urlaub dazu. Ferien haben sie nie gemacht.

In erster Instanz wurde die Pflegemutter Mathilde T. im Oktober 2012 wegen Misshandlung von Schutzbefohlenen in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt (die RP berichtete). Die heute 63-Jährige ging daraufhin in Berufung. Zum Tatzeitraum von 1998 bis 2002 betrieb die Pflegemutter ab 1999 einen Kiosk in Vorst, zunächst auf der Kuhstraße, später auf der Clevenstraße. Im zum Kiosk gehörenden Haus lebte die Pflegemutter mit ihrer Tochter, die minderjährig Mutter geworden war, ihrem Schwiegersohn und ihrem erwachsenen leiblichen Sohn und den beiden Pflegetöchtern. Die Frau hatte sich entschlossen, Pflegekinder längerfristig aufzunehmen. Über das Jugendamt der Stadt Moers bekam sie Kontakt zu den Geschwistern Aziza L. (Jahrgang 1988) und Dunja L. (Jahrgang 1992). Die damals neun und fünf Jahre alten Mädchen waren, nachdem sich ihre Mutter 1998 das Leben genommen hatte, im Kinderheim Neukirchen-Vluyn untergebracht worden. Ab August kamen die Mädchen dauerhaft in den Haushalt der Angeklagten in Tönisvorst.

In der Urteilsbegründung der ersten Instanz heißt es: "Die Zeit zwischen dem 7. August 1998 und dem 19. November 2002, die die Geschädigten durchgehend im Haushalt der Angeklagten unter häufig wechselnden Anschriften verbringen mussten, entwickelte sich für diese zu einem Martyrium." Es begannen Jahre der Erniedrigung durch Schlagen mit der bloßen Hand, mit Stuhlbeinen und Bürsten. Die Mädchen wurden nach Ansicht des Gerichts nicht ausreichend mit Nahrung und Kleidung versorgt. Sie mussten in dünner Kleidung im Winter stundenlang auf dem Hof oder der Dachterrasse stehen. Als die ältere Pflegetochter volljährig war, erstattete sie Anzeige bei der Polizei.

Vor Gericht ging es gestern in erster Linie um die finanziellen Verhältnisse der Angeklagten, die mittlerweile in Detmold lebt. Unter Vorsitz von Richterin Kraft-Efinger stellte sich dem Schöffengericht ein desolates Bild der finanziellen und sozialen Situation der Pflegemutter dar. 2009 wurde ein Insolvenzverfahren eröffnet. Die 1950 in Duisburg geborene Frau ist geschieden und war zweimal verheiratet. Von ihrem ersten Mann bekam sie drei Kinder, von ihrem zweiten Mann hat sie sich nach nur drei Monaten wieder getrennt. Von 1999 bis 2004 hat sie sich als Zeitschriftenhändlerin versucht, hat dafür Kredite aufgenommen. Im Kiosk soll die eigene Tochter sie bestohlen haben, das Finanzamt hat sie mangels Angaben geschätzt und wartet noch auf Zahlungen. Auch die Sparkasse Krefeld hat beträchtliche Forderungen, dazu die Metro und verschiedene Versandhäuser. Zum Zeitpunkt der Übernahme der Kinder war sie anscheinend arbeitslos. Die Frage stand greifbar im Raum: Wie kann das Jugendamt der Stadt Moers einer Frau in einer solch desolaten Lage zwei Kinder anvertrauen und ihr sogar das Sorgerecht übertragen? Das werden die Mitarbeiterinnen beim Termin am 8. Oktober dem Gericht erklären müssen.

(RP)
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