Krefeld/Bonn Wenn das Jugendamt bei Pflegekindern versagt

Krefeld/Bonn · In Krefeld steht heute eine Frau vor Gericht, die über Jahre hinweg ihre beiden Pflegetöchter misshandelt haben soll. Experten fordern eine bessere Ausstattung der Jugendämter und intensivere Vernetzung der Mitarbeiter.

Krefeld/Bonn: Wenn das Jugendamt bei Pflegekindern versagt
Foto: Information und Technik NRW/Radowski

Aziza und Dunja L. waren neun und fünf Jahre alt, als sie in den Haushalt von Mathilde T. in Tönisvorst kamen. Nach dem Selbstmord ihrer Mutter hatten sie in einem Kinderheim in Neukirchen-Vluyn gelebt, in ihrer Pflegefamilie sollte es ihnen besser gehen. Was sie dort aber erlebten, wurde zum Martyrium: Die Mädchen wurden geschlagen und schlecht versorgt. Ohne warme Kleidung mussten sie zum Beispiel im Winter stundenlang auf dem Hof oder der Terrasse stehen. Gelegentlich verbot die Pflegemutter den Gang auf die Toilette. Als eines der Mädchen in eine Spielzeugkiste urinierte, wurde es gezwungen, den Inhalt auszutrinken.

In erster Instanz lautete das Urteil für Mathilde T. drei Jahre und sechs Monate — dagegen hat sie Revision eingelegt. Vor dem Landgericht Krefeld wird heute das Berufungsverfahren fortgeführt, in dem es besonders um die Frage geht, welche Rolle das Jugendamt der Stadt Moers spielte. Für heute sind zwei Mitarbeiterinnen geladen, die Auskunft darüber geben sollen, warum das Jugendamt die zwei Schwestern dieser Frau anvertraute. Ein weiterer Fall wirft die Frage auf, wie intensiv Jugendämter die Betreuung von Kindern in Pflegefamilien kontrollieren: In Bonn steht zurzeit eine ehemalige Mitarbeiterin der Stadt Königswinter ebenfalls vor Gericht: Sie war verantwortlich für die neunjährige Anna, die im Juli 2010 von ihrer Pflegemutter in Bad Honnef ertränkt worden war.

Pflegefamilien werden nach strengen Kriterien ausgesucht, sagt Prof. Reinhart Wolff. So würden etwa Einkommen, Führungszeugnis und Lebensverhältnisse geprüft. Einige Kommunen schrieben auch den Besuch von Elternkursen vor. Der Erziehungswissenschaftler und Soziologe, der lange an Berliner Hochschulen Sozialarbeiter ausgebildet hat, betont, die Jugendämter arbeiteten in einem "Hochrisikobereich" — sie müssen in einem sensiblen Feld, der Familie, eingreifen — und das mit begrenzten Ressourcen. "Die Mitarbeiter sind heute permanent überlastet, sie betreuen 50 bis 60 Familien." Alle 14 Tage bei jedem Kind vorbeizuschauen, sei unmöglich. Er fordert deshalb mehr Personal, eine bessere Qualifizierung und Weiterbildung sowie eine bessere Vernetzung der Mitarbeiter untereinander. "Es gibt zu wenig Räume, in denen sie mit Kollegen über schwierige oder unklare Fälle diskutieren können."

Dramatisch findet Heinz Hilgers, Präsident des Deutschen Kinderschutzbundes, die Fälle aus Tönisvorst und Königswinter. "Wäre in den Jugendämtern ordentlich gearbeitet worden, wäre das nicht passiert", betont er. Für ihn seien diese Pflegemütter allerdings "schwarze Schafe". "Die meisten Pflegefamilien leisten sehr gute Arbeit, sind höchst engagiert und werden für ihren Einsatz nicht adäquat bezahlt." Auch Hilgers sieht ein Problem beim Betreuungsschlüssel. Fürs Jugendamt sei noch keine maximale Fallzahl gesetzlich vorgeschrieben, anders als im Vormundschaftswesen (60 Fälle). Im Pflegedienst sollte die Zahl von 50 Pflegekindern nicht überschritten sein, mahnt Hilgers, handelt es sich um Dauerpflegekinder sei das Maximum sogar nur 30.

Ein weiteres Problem: Die Jugendämter vermitteln die Kinder in Pflegefamilien, je nach Kommune sind sie aber für die Betreuung beider verantwortlich — ein Interessenskonflikt droht. Wendet sich ein Kind ausgerechnet an den Menschen, der es in diese Familie geschickt hat, in der es ihm schlecht geht? Heinz Hilgers moniert, dass eine Vorgabe des neuen Bundeskinderschutzgesetzes — das Recht auf Beschwerde — noch am wenigsten umgesetzt sei. Er schlägt deshalb eine regionale Ombudsstelle vor, an die sich Kinder wenden können.

Als Aziza und Dunja L. zu der Pflegemutter geschickt wurden, war Mathilde T. 48 Jahre alt und zum zweiten Mal geschieden. Ihre leibliche Tochter war minderjährig Mutter geworden. Als Kioskbetreiberin war Mathilde T. hoch verschuldet. Im Berufungsverfahren soll jetzt auch geklärt werden, wie das Jugendamt die Pflegezeit kontrollierte. Bisher zeigte sich die Stadt Moers wenig kooperativ: Zum laufenden Verfahren wollte sie sich nicht äußern, und im Ermittlungsverfahren wurde die Herausgabe von Akten verweigert, so dass es am 5. Mai 2009 zu einer Durchsuchung der Amtsräume kam. Die Stadt Königswinter war für eine Stellungnahme nicht zu erreichen.

(RP)
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