Altena Altena will durch Flüchtlinge wachsen

Altena · Die Kleinstadt im Sauerland hat seit den 70ern erst große Teile ihrer Industrie und dann fast die Hälfte der Bevölkerung verloren. Jetzt nimmt sie mehr Flüchtlinge auf, als sie müsste. Und hofft, dass sie bleiben.

Wenn Bürgermeister Andreas Hollstein über die Flüchtlinge spricht, wandert sein Blick immer wieder in die Ferne. Zurückgelehnt sitzt der 52-Jährige in seinem Büro im ersten Stock des Altenaer Rathauses, das an einem Hang oberhalb des Flusses Lenne errichtet wurde, und erzählt vom Verfall einer einst starken Industrieregion, von Bevölkerungsabwanderung, Arbeitslosenquote, Wohnungsleerstand und eisernen Sparmaßnahmen. Lange Zeit sah es nicht gut aus für die Kleinstadt im Märkischen Kreis, genau zwischen Iserlohn im Norden und Lüdenscheid im Süden gelegen. Dann kamen die Menschen aus der Fremde, und die 17.250-Einwohner-Stadt schöpfte wieder Hoffnung. Seitdem verfolgt Hollstein eine Vision: dass möglichst viele der Flüchtlinge bleiben und Altena zu ihrer neuen Heimat machen. Dafür nahm der Bürgermeister 100 mehr von ihnen auf, als er gemusst hätte - fast ein Drittel ist das.

Auf dem kurzen Weg zwischen dem Rathaus und der Lenne hebt Anette Wesemann mehrfach die Hand zum Gruß. Es ist offensichtlich: Die 48-Jährige kennt in Altena so ziemlich jeden. Sie ist eine wichtige Schnittstelle zwischen der Stadt und ihren Bürgern. In der Stabsstelle für bürgerschaftliches Engagement betreut sie das "Stellwerk". In dem kleinen lilafarbenen Häuschen am Flussufer werden die Kräfte ehrenamtlicher Helfer gebündelt. Dort agiert etwa das Netzwerk Demenz, es gibt eine Hausaufgabenbetreuung und Aktionsgruppen. "Die Verwaltung kann diese Angebote alleine nicht stemmen", sagt Wesemann. "Wir sind auf die Beteiligung der Bürger angewiesen."

Seit Januar 2014 werden in den Räumen des "Stellwerks" auch Sprachkurse für Flüchtlinge gegeben. Damals stammten die erwachsenen Schüler aus Eritrea und Guinea, heute sind es vor allem Syrer und Afghanen. France Bruens, die aus Belgien kommt und seit etlichen Jahren in Altena lebt, gehört zu denen, die dreimal pro Woche für jeweils zwei Stunden Deutsch unterrichten. Nicht immer sei das leicht. "Manche haben einen Hochschulabschluss, andere können nicht mal lesen und schreiben", sagt die 70-Jährige. Seit einer Woche hilft die Volkshochschule mit Sprachkursen aus.

Altena, die NRW-Kommune mit dem schnellsten Bevölkerungsrückgang, habe schon immer Flüchtlinge aufgenommen, berichtet Bürgermeister Hollstein. Einst gab es für sie drei Unterkünfte. Ein Domizil wurde nicht mehr gebraucht, an Stelle eines anderen steht heute der Erlebnisaufzug hoch zur Burg, dem Wahrzeichen der Stadt. Und das dritte wurde erst im Oktober bei einem fremdenfeindlichen Anschlag zerstört.

Zum Problem wurde die Unterbringung der Flüchtlinge damit aber nicht. "Wir haben zwölf Prozent Leerstand, wir können Wohnungen zuweisen", sagt Hollstein. So leben die Menschen - 270 Regelzuweisungen und seit Mitte Oktober 100 extra - nun in der Stadt verteilt mitten unter den Einheimischen. Für alleinstehende Männer hat die Stadt zwei Häuser angemietet, wo sie in Wohngemeinschaften leben. Auf Hallen oder Zelte zurückgreifen muss die Stadt darum nicht.

Hollstein, seit 1999 im Amt, wusste, das klappt nur, wenn die Bevölkerung es mitträgt. Darum bemühte er sich um Flüchtlinge aus Bürgerkriegsländern. "Sie werden besser akzeptiert als Wirtschaftsflüchtlinge", sagt er. Von Anfang an hatte der CDU-Politiker bei seinem Vorhaben den Rückhalt der anderen Fraktionen, bestätigt Lutz Vormann, SPD-Ortsvereinsvorsitzender: "Alle Parteien standen dahinter", sagt er. "Denn die Flüchtlinge bieten für Altena eine Chance." Deutsches Rotes Kreuz, Technisches Hilfswerk und Freiwillige Feuerwehr sprangen ein und halfen, etwa beim Möblieren der Wohnungen. Mit im Boot sind auch katholische und evangelische Kirche sowie der islamische Verein. Die Brandstiftung am Flüchtlingsheim habe die Menschen nur noch stärker zusammenrücken lassen, sagt Hollstein: "Überall hieß es: Jetzt erst recht."

Der Zeitpunkt, zu dem die zusätzlichen 100 Menschen ankamen, sei genau richtig gewesen, sagt SPD-Politiker Vormann. "Die Stimmung der Willkommenskultur war auf einem hohen Level", sagt er. Damit sich die Kritiker nicht ausgegrenzt fühlten, wurden alle Mieter, in deren Haus eine Flüchtlingsfamilie zog, in persönlichen Gesprächen informiert. "90 Prozent von ihnen waren einverstanden", sagt Vormann. Auch für die Schulen bedeutet das einen Zuwachs: 16 Kinder wurden in weiterführenden und zehn in Grundschulen aufgenommen.

Das städtische Bemühen um die Flüchtlinge aber geht noch weiter. Für jede Familie fand das "Stellwerk" einen oder mehrere ehrenamtliche Paten, 32 an der Zahl. Sie begleiten die Flüchtlinge zu Ärzten und Behörden oder helfen bei amtlichen Schreiben. Bernadette Koopmann hätte eigentlich mit ihrer eigenen Familie genug zu tun. Die Mutter dreier Kinder aber meldete sich als Patin. Seit wenigen Wochen betreut die 43-Jährige eine afghanische Familie, die ebenfalls drei kleine Kinder hat. Die Verständigung klappt über eine Sprach-App auf dem Smartphone. Dass ihr durch die Patenschaft weniger Zeit für sich selbst bleibt, nimmt Koopmann in Kauf. "Je mehr wir die Flüchtlinge integrieren, desto mehr bringt es uns selber", sagt die Juristin.

In den 70er Jahren verlor Altena große Teile seiner Metallindustrie. Von den damals rund 9000 Arbeitsplätzen sind im Jahr 2012 lediglich noch 5000 vorhanden gewesen. Mehr als 14.000 Menschen verließen in dieser Zeit die Stadt. "Heute liegt die Arbeitslosenquote bei 6,5 Prozent", sagt der Bürgermeister. Sobald die Flüchtlinge eine gesicherte Aufenthaltserlaubnis haben und arbeiten dürfen, will er sie vermitteln. "Wir sind mit heimischen Unternehmen im Gespräch", sagt Hollstein. Er weiß, dass er einige der Flüchtlinge - wie zuvor Einwohner - langfristig an Großstädte verlieren wird. Aber Menschen wie Joseph Anthony könnten bleiben. Der 23-Jährige ist aus Nigeria geflohen. In Altena fühlt sich der junge Mann sicher, er will so schnell nicht weg. Außerdem: "Ich wüsste nicht, wo ich sonst hingehen sollte", sagt er.

Der Bürgermeister sieht die Flüchtlinge jedoch nicht nur als einen wirtschaftlichen Faktor. "Wir haben keine Krise erlebt. Darum sind wir es den Flüchtlingen schuldig, ihnen zu helfen", sagt er. "Wenn wir noch mehr von ihnen aufnehmen müssten, würden wir es tun - auch wieder freiwillig."

(RP)
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