Bach 1: "Matthäus-Passion"

Sind Blitze und Donner, sind Licht und Schatten, sind Himmel und Erde: So kontrastreich begab sich eine schöne, tiefe, dichte Aufführung von Bachs "Matthäus-Passion" in der Johanneskirche. Wolfgang Abendroth hat sie geleitet, hat die Johanneskantorei zu einem exzellenten, leicht reagierenden, wach phrasierenden und vor allem: ausgeglichen besetzten Chor geformt – und außerdem ein ungewöhnlich delikates Doppel-Orchester, das Chamber Jam Ensemble, akquiriert. Man war gleichsam bei Bach zuhause, konnte zahllose Male über den Thomaskantor staunen und wurde nicht selten ergriffen.

Dabei hatte die Aufführung Schwachpunkte, aber sie sprachen nicht gegen das Können der Musiker, sondern dokumentierten vielmehr den übergroßen Rang der Musik. Stilistisch hatte Abendroth nämlich keine einheitliche Konzeption. Die Choräle waren mal neutral, mal hochexpressiv, fast herrschte Deutungswillkür, etwa in der Abwicklung von Fermaten. Abendroth schien auch dermaßen in die Integration der Choräle in den dramatischen Fluss vertieft, dass er andere Aspekte vernachlässigte, etwa die Aussprache von Schlusskonsonanten.

Anderswo staunte man dankbar, wie intensiv und elastisch er die Turbae-Chöre formte, wie er sich aber auch eine gewisse pathetische Langsamkeit nicht nehmen ließ. Gleichgeschaltet, uniformiert klang diese "Matthäus-Passion" jedenfalls nie. Irgendwo gab es mal eine chorische Intonationspanne, doch wo? Schon vergessen. Für seine auch theologisch sinnfällige Idee, den Düsseldorfer Mädchen- und Jungenchor (von Justine Wanat bestens einstudiert) auf die Wendeltreppe zur Kanzel zu postieren, gebührt Abendroth übrigens ein Sonderlob.

Was die Konzeption anlangt, so wandelte sie sich in eine Freizügigkeit, über die man sich fallweise wundern oder freuen konnte. Das Orchester II spielte mitunter im Duktus der historisch informierten Aufführungspraxis, zeigte etwa in der Bassarie "Gerne will ich mich bequemen" feinen Verzicht auf Vibrato, was umso krasser auffiel, als der Konzertmeister von Orchester I sein Solo in der Alt-Arie "Erbarme Dich" mit fast romantischem Wellengang spielte. Solcherart wurde die Formulierung, in Bachs Haus gebe es viele Wohnungen, gleichsam in einer einzigen Aufführung eingelöst.

Viel Licht und ein wenig Schatten auch bei den Gesangssolisten. Die schönste Stimme bot Patricio Arroyo in seinen Tenor-Arien, die ihm so herrlich gerieten, dass man seinen kleinen Ausreißversuch als Hohepriester gern entschuldigte. Rolf A. Scheider durchmaß die Bass-Arien ebenso nobel und kultiviert, wie es Dagmar Linde (mit apartem Timbre, doch leicht gedrosselter Resonanz) in den Alt-Arien tat. Erica Eloff sang die Sopran-Arien nicht knabenhaft, sondern mit der (überzeugenden) Diktion einer Mozartschen Fiordiligi. Henning Klocke war ein sichtlich mitleidender und rhythmisch tadelloser Evangelist.

So war denn der herzliche und lange Beifall mehr als berechtigt. Nach dieser Bereitung des Wegs konnte Ostern kommen.

(RP)
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