Das Leiden der Julia Timoschenko

Die ehemalige Revolutionsheldin und Regierungschefin der Ukraine ist schwer krank. Wegen angeblichen Amtsmissbrauchs verbüßt sie eine siebenjährige Gefängnisstrafe. Obwohl die 51-Jährige im Hungerstreik ist, verweigern ihre politischen Gegner ihr eine angemessene Behandlung, die am besten im Ausland stattfände.

kiew/berlin Bilder einer misshandelten Frau gehen um die Welt: Julia Timoschenko liegt auf einer Pritsche. Sie zeigt die blauen Flecken an ihren Armen und das große Hämatom auf ihrem Bauch. Zur gleichen Zeit gibt es in der ukrainischen Hauptstadt Kiew eine Solidaritätsdemo für die inhaftierte Oppositionsführerin. Gerade einmal 2000 Menschen sind gekommen. Im Westen wird Timoschenko zur Leidens-Ikone hochstilisiert. Den meisten ihrer Landsleute ist das Schicksal der 51-jährigen Politikerin dagegen ziemlich gleichgültig.

Dabei gab es eine Zeit, da gingen eine halbe Million Menschen in Kiew auf die Straße, um mit Julia Timoschenko für gerechte Wahlen zu kämpfen. Das war 2004, während der Orangen Revolution. Wenig später war Timoschenko Regierungschefin.

Heute verbüßt sie eine siebenjährige Haftstrafe in dem Frauengefängnis Katschanowska in Charkow. Im Slang der Insassen gibt es für Frauen wie sie einen Ausdruck "Schokoladniza" – das Schokoladenmädchen. Und irgendwie ist die Kurvenfahrt, das Schrille im Leben der Julia Timoschenko, die in den 90er Jahren an der Spitze der "Vereinigten Energiesysteme der Ukraine" steinreich wurde und dann in die Politik ging, auch ein Symbol für ihr Land.

"Die Kornkammer Europas", dieses alte Klischee über die Ukraine ist auch heute noch weit verbreitet. Doch die Landwirtschaft der ehemaligen Sowjetrepublik liegt am Boden, die Kolchosen sind aufgelöst, selbst fruchtbare Böden liegen brach. Die Ukraine ist kein wohlhabendes Land. Denn ihr fehlt das, wodurch sich Wohlstand in der modernen Welt definiert: Energievorkommen oder hoch entwickelte Industrie. Mit Russland liegt das Land regelmäßig im Streit um Gaspreise und Gasdurchleitungsrechte.

Das Land mit 45 Millionen Einwohnern leidet dafür unter den üblichen Malaisen der postsowjetischen Welt. Korruption und Vetternwirtschaft, demokratische Defizite, Missachtung der Menschenrechte. Doch anders als ihre Nachbarländer Russland und Weißrussland hatte die Ukraine eine echte Chance auf Fortschritt und Wandel. Dass es anders kam, ist auch die Schuld von Julia Timoschenko. Und viele ihrer Landsleute haben ihr das nicht verziehen.

Im November 2004 will der scheidende ukrainische Präsident Leonid Kutschma einen vorbestraften Mann als Nachfolger in sein Amt hieven: Viktor Janukowitsch. Die Aktion gelingt zunächst. Mit massiven Wahlfälschungen gewinnt Janukowitsch gegen den Oppositionellen Viktor Juschtschenko. Mitten im Wahlkampf wird Juschtschenko vergiftet, vermutlich bei einem Essen mit dem damaligen ukrainischen Geheimdienstchef. Sein Gesicht ist für immer entstellt, die inneren Organe schwer geschädigt. Ärzte im Rudolfinerhaus in Wien stellen fest: Juschtschenko wurde mit Dioxin vergiftet. Hätte er sich nicht direkt nach der Mahlzeit übergeben, wäre er an dem Gift gestorben.

Der Giftanschlag und die Wahlfälschungen bringen die Ukrainer in Rage. Die "Orange Revolution" fegt den Fälscher Janukowitsch aus dem Amt. Juschtschenko wird Präsident, Julia Timoschenko seine Regierungschefin. Plötzlich stehen der Ukraine alle Türen offen: Demokratische und wirtschaftliche Reformen, Mitgliedschaft in EU und Nato sind die angepeilten Ziele. Doch die beiden Revolutionsführer verspielen ihren Sieg in einem endlosen Hickhack. Nach fünf Jahren haben die Ukrainer genug vom Chaos: Die Präsidentenwahlen im Januar 2010 gewinnt Viktor Janukowitsch. Wenig später sorgt er dafür, dass gegen seine Erzrivalin Timoschenko wegen Amtsmissbrauchs ermittelt wird. Im Oktober 2011 wandert sie für sieben Jahre hinter Gitter. Es riecht nach Rachejustiz.

Julia Timoschenko hat Angst im Gefängnis. Und sie hat Angst vor ukrainischen Ärzten. Führt man sich vor Augen, was mit ihrem ehemaligen Verbündeten Juschtschenko geschah, dann kann man sie verstehen. Gegen ihren Willen wurde sie vor kurzem für eine Untersuchung ins örtliche Eisenbahner-Krankenhaus verlegt. Als sie sich weigerte, wandten Justizvollzugsbeamte Gewalt an. Das hat sogar die Staatsanwaltschaft zugegeben. Aus Protest gegen ihre Behandlung befindet sich Timoschenko seit einer Woche im Hungerstreik. Tochter Eugenia befürchtet eine Zwangsernährung ihrer Mutter.

Ehemann Oleksandr Timoschenko, der im tschechischen Exil lebt, unterstellt den Behörden sogar Mordabsichten. Fotos, die zeigten, wie seine Frau in einer Gefängniszelle zusammengeschlagen werde, seien "schockierend und entsetzlich", sagte er der Nachrichtenagentur AP. Die ihr dabei zugefügten Verletzungen seien eine "Generalprobe für ihre physische Zerstörung – ein Mord, den die Behörden seit den Repressionen gegen sie auszuführen planen".

Die Ex-Regierungschefin klagt über starke Rückenschmerzen, sie kann offenbar kaum laufen. Ein Ärzteteam der Berliner Charité diagnostizierte einen Bandscheibenvorfall und schlug eine Behandlung in Deutschland vor. Doch die ukrainische Behörden lehnen das ab: Häftlinge dürften sich nicht im Ausland behandeln lassen. Charité-Chef Karl Einhäupl erneuerte gestern seine Bedenken gegen eine Behandlung Timoschenkos in der Ukraine. Sie habe keinerlei Vertrauen in die ukrainischen Ärzte und befürchte etwa bei Injektionen oder Blutentnahmen mit Krankheiten angesteckt zu werden. Ihr Misstrauen sei durch die Erfahrung gesteigert worden, dass sie Schmerzmittel nur bekommen habe, wenn sie bereit gewesen sei, in einem weiteren gegen sie laufenden Strafverfahren Aussagen zu machen. Der neue Prozess soll in der nächsten Woche beginnen.

Wegen des Hungerstreiks sei der Gesundheitszustand Timoschenkos inzwischen bedrohlich, warnte Einhäupl. Das Krankheitsbild sei von den ukrainischen Kollegen zunächst nicht ernst genommen worden. Den am 5. Oktober vergangenen Jahres eingetretenen Bandscheibenvorfall hätten die Behörden erst am 7. Januar untersuchen lassen. Damit sei die Krankheit chronisch geworden und nicht durch die Entsendung von ein oder zwei Experten in den Griff zu bekommen. Ein ganzes Team von Spezialisten müsse sich der Patientin annehmen, und das am besten bei der Charité in Berlin, sagte Einhäupl. Der Charité-Chef wandte sich gestern direkt an Janukowitsch: "Seien Sie ein humanitären Werten verpflichteter Präsident und lassen Sie Frau Timoschenko in das europäische Ausland ausreisen", lautete sein Appell. Bei der Vorstellung eines neuen Gutachtens betonten die Charité-Experten, Timoschenko habe mit Sicherheit einen oder mehrere Bandscheibenvorfälle.

Kanzleramt und Auswärtiges Amt versuchten ebenfalls, auf Kiew einzuwirken. Merkels außenpolitischer Berater Christoph Heusgen und die Staatssekretärin des Auswärtigen Amtes, Emily Huber, besprachen Lösungsmöglichkeiten mit dem ukrainische Vize-Außenminister Pawlo Klimkin. Einzelheiten des Gespräches wollte die Regierung nicht mitteilen. In einem Interview hatte Klimkin zuvor eingeräumt, dass das ukrainische Justizsystem nicht perfekt sei und deshalb Reformen vorbereitet würden. Die Kanzlerin selbst ist nach Mitteilung ihres Sprechers Steffen Seibert über Timoschenkos Zustand "sehr informiert", sie habe sich unter anderem mit deren Tochter getroffen.

Seibert lenkte den Blick auf weitere Fälle, "in denen die Strafjustiz instrumentalisiert worden ist, um Demokratie zu behindern". Auch die Lage dieser Menschen müsse verbessert werden. In Haft sitzen neben Timoschenko unter anderen der ehemalige Innenminister Juri Luzenko, der frühere Umweltminister Georgi Filiptschuk sowie Ex-Verteidigungsminister Waleri Iwaschtschenko. Die Inhaftierungen haben eine breite Debatte darüber ausgelöst, ob Spitzenpolitiker zu EM-Spielen in die Ukraine reisen sollen. Bundespräsident Joachim Gauck sagte aus Protest bereits eine Reise in das Land ab.

Das Hauptproblem im Fall Timoschenko ist aber nicht ihre Krankheit, sondern ihre Verurteilung und Inhaftierung. Die EU fordert ihre sofortige Freilassung. Für Janukowitsch wäre es eigentlich eine ideale Lösung, Timoschenko eine Behandlung in Berlin zu ermöglichen. Dann könnte er nach innen sein Gesicht wahren, und nach außen wäre die Fußball-EM nicht von dem Fall überschattet. Doch der ukrainische Staatschef agiert in der Sache ohne diplomatisches Geschick – offenbar sitzt der Hass auf seine Rivalin einfach zu tief.

(RP)
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