Berlin Der Tag der Rücktritte bei Grünen und FDP

Berlin · Die Grünen-Vorsitzenden Roth und Özdemir stellen ihre Ämter zur Verfügung. Die Liberalen stehen vor einem kompletten Neuanfang.

Zwei Frauen und zwei Männer treten am Tag nach dem Wahldebakel der Grünen auf die Bühne in der gespenstisch leeren und dunklen Berliner Columbiahalle. Die Frau ganz links heißt Claudia Roth. Die Grünen-Vorsitzende sieht übernächtigt aus. Sie wirkt bitter enttäuscht und säuerlich. Der Mann neben ihr heißt Cem Özdemir. Er ist neben Roth der zweite Vorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen. Doch Özdemir gibt sich am Tag danach schon wieder selbstbewusst, entschieden, nach vorne schauend.

Rechts neben ihm steht Spitzenkandidatin Katrin Göring-Eckardt. Auch sie wirkt energisch an diesem Tag danach. Göring-Eckardt zählt auf, warum die Grünen bei dieser Bundestagswahl nur gut acht Prozent der Stimmen errungen haben. "Wir haben ganz offenbar den Eindruck erweckt, dass wir als Verbotspartei und Zeigefinger-Partei immer schon wissen, was gut für die Menschen ist, statt für Dialog und Wahlfreiheit zu stehen." Neben ihr wartet Jürgen Trittin. Der Spitzenkandidat und Noch-Fraktionsvorsitzende wirkt bockig. "Wir müssen sehen, welchen Anteil wir selbst an dieser Wahlniederlage haben", sagt Trittin. Das klingt fast kleinlaut.

Ein Auftritt, der Bände spricht: Der Linksruck der Grünen im Vorfeld dieser Wahl, der an der Spitze vor allem repräsentiert wurde durch Roth und Trittin, hat sich aus Sicht der konservativen Grünen-Realos Özdemir und Göring-Eckardt als falsch erwiesen. Beide sehen nun ihre Stunde gekommen. Die Zeit von Roth und Trittin scheint dagegen vorbei zu sein.

Noch zeichnet sich dieser Macht-, Richtungs- und Generationswechsel bei den Grünen erst ab. Gestern kündigen zunächst der sechsköpfige Vorstand, dem Özdemir und Roth angehören, und der 16-köpfige Parteirat ihren Rücktritt an. Mit Özdemir und Göring-Eckardt ist aber weiter zu rechnen. Denn der Parteivorsitzende will sich beim nächsten Bundesparteitag, der bisher für Mitte Oktober vorgesehen war, erneut zur Wahl stellen. Auch die übrigen Positionen in der Parteispitze sollen auf der nächsten Bundesdelegiertenkonferenz neu vergeben werden — eine Weichenstellung für 2017.

Göring-Eckardt, der Parteifreunde die Wahlniederlage offenbar weniger stark anlasten als Trittin, erwägt nach Angaben aus Parteikreisen ihre Kandidatur für den Fraktionsvorsitz. Neben ihr könnte der bisherige Vorsitzende des Verkehrsausschusses im Bundestag, der Parteilinke Anton Hofreiter, Trittin an der Fraktionsspitze ersetzen.

Özdemir und Göring-Eckardt geben bereits vor, wohin die Reise für die Grünen künftig gehen soll. Mit dem Scheitern der FDP werde im Bundestag der Platz für eine Bürgerrechts- und Freiheitspartei frei, sagt Göring-Eckardt: "Diesen Platz können und werden wir besetzen." Sie sei nach der Wende in die Partei eingetreten, "weil ich dachte, die Grünen sind die Partei der Freiheit".

Özdemir betont, die Grünen könnten sich ohne die FDP noch stärker als Mittelstandspartei positionieren. "Kleine und mittlere Unternehmen sind unsere Partner", so der Mann aus Baden-Württemberg. Die Grünen müssten besser erklären, dass sie die meisten Menschen steuerlich ent- und nicht belasten wollten. Energiewende, Nachhaltigkeit und Ökologie müssten wieder eindeutig ins Zentrum der grünen Aufmerksamkeit rücken.

Und dann gibt es da noch einen Rücktritt: Auch der Parlamentarische Geschäftsführer Volker Beck erklärt, er werde sein Amt zur Verfügung stellen und sich künftig nur noch der Fachpolitik widmen. Beck zieht damit die Konsequenz aus einer unappetitlichen Affäre: Unmittelbar vor der Wahl war ein Schriftstück aufgetaucht, mit dem sich belegen ließ, dass er im Zusammenhang mit einem von ihm verfassten Buchbeitrag von 1988 über mögliche Strafherabsetzungen für Pädophile nicht die volle Wahrheit gesagt hatte. "Es gab in meiner Kommunikation Fehler", sagt Beck. Özdemir, der neue starke Mann bei den Grünen, kündigt an, die Partei werde das Pädophilie-Thema mit Zeitzeugen und Experten aufarbeiten und dazu "ein Papier vorlegen".

Bei der FDP fallen die Konsequenzen einige Kilometer entfernt, auf der Präsidialebene des Reichstags, noch drastischer aus: FDP-Chef Philipp Rösler und mit ihm die gesamte Parteiführung treten unwiderruflich zurück. "Es war die schwerste, die größte Niederlage der Freien Demokratischen Partei seit ihrem Bestehen", sagt der leichenblasse Rösler. "Es war die bitterste Niederlage — auch für mich persönlich."

Auch für Spitzenkandidat und Fraktionschef Rainer Brüderle, der sich im Wahlkampf bis zur völligen körperlichen Erschöpfung verausgabt hat, gibt es keine politische Zukunft mehr. Die liegt nun in den Händen des 34-jährigen nordrhein-westfälischen Landesvorsitzenden Christian Lindner. Am Wahlabend hatte er auf dem Podium der Wahlverlierer am Alexanderplatz noch am Rand gestanden, am Tag danach steht er im Rampenlicht: Er werde den Parteivorsitz übernehmen, kündigt Lindner an. Als Ziel gibt er aus, die Partei 2017 zurück in den Bundestag zu führen. Es dürfe jetzt kein "Weiter so" geben, sondern eine auch inhaltliche Erneuerung.

"Vor lauter Schärfe in der Abgrenzung haben wir in den vergangenen Jahren möglicherweise unser eigenes politisches Angebot vernachlässigt", sagt Lindner und deutet damit an, dass sich die Partei künftig neuen Themen, etwa Arbeitnehmerfragen, verstärkt öffnen muss. "Nicht alles war falsch, aber manches offensichtlich auch nicht überzeugend", sagt Lindner.

Vor zwei Jahren gehörte er mit Philipp Rösler und Daniel Bahr der jungen "Boygroup" an, die die FDP schon damals erneuern wollte und sollte. Viele Neustarts kann sich die FDP nun nicht mehr leisten.

(rl, mar)
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