Nachbar Taiwan Das kleine China

Mutterland oder Nachbarstaat? Taiwans Gesellschaft definiert ihr Verhältnis zur Volksrepublik China gerade neu.

Es erinnert sehr an ein Beziehungsdrama, das Verhältnis zwischen der großen Volksrepublik China und dem winzigen Taiwan. Mit einer Mischung aus Lockungen und Drohungen versucht das Milliardenvolk seit Jahrzehnten, die 23 Millionen Inselbewohner endlich heimzuholen ins Reich der Mitte. Wäre das eine Geschichte aus dem Privatleben, fänden sich beide Seiten wohl längst vor einem Familienrichter oder einem Paartherapeuten wieder. Aber weil es sich um Politik handelt, fühlt sich niemand zuständig. China hat dafür gesorgt, dass das demokratische Taiwan kein Mitglied der Uno sein darf und fast nirgendwo als Staat anerkannt wird — auch nicht von Deutschland. "Das ist unsere Privatangelegenheit", sagt China, und die Welt hält sich raus.

Längst haben die beiden Seiten sich auseinandergelebt. Noch bis in die 80er Jahre herrschte auch in Taiwan eine Diktatur, unter dem Staatsnamen Republik China das ideologisch rechte Gegenstück zur kommunistischen Volksrepublik. Tschiang Kai-Schek und seine Nachfolger erhoben seit ihrer Vertreibung vom Festland 1949 den Anspruch, weiterhin ganz China zu repräsentieren. So waren beide Chinas einander in inniger Feindschaft verbunden.

Doch so wie Menschen sich nach langer Trennung neu entdecken, hat Taiwan die Altlasten nach und nach abgeschüttelt: das Kriegsrecht abgeschafft, sich zur Vorzeigedemokratie gewandelt, eigene Werte entdeckt. Zwar gilt der alte Name "Republik China" noch immer, doch eine Mehrheit empfindet inzwischen: Wir sind Taiwan, und China ist China. Dass die Taiwaner das nicht immer laut aussprechen, liegt vor allem an dem als bedrohlich empfundenen Nachbarn, von dem sie nur 180 Kilometer Wasser in der Taiwanstraße trennen.

China versuchte zuletzt abwechselnd mit Drohungen und teuren Geschenken, Taiwans Herz zurückzugewinnen. Acht Jahre lang schloss man Wirtschaftsabkommen, ermöglichte Direktflüge, schickte immer mehr Touristen und Studenten. Doch viele Taiwaner misstrauten den Motiven hinter dieser Charmeoffensive. Und sie wählten im Mai Tsai Ing-wen zur Präsidentin. Sie ist die erste Staatschefin Asiens, die nicht aus einer Politdynastie stammt. In Peking gilt Tsais Partei allerdings als Separatistenverein, der einen klaren Schlussstrich ziehen und den Namen "China" ganz ablegen will. Für diesen Fall droht man offen mit Gewalt. Mehr als 1000 Raketen sind vom Festland ständig auf Taiwan gerichtet. Doch Tsai hat ihre Partei schon lange auf einen gemäßigten Kurs eingeschworen.

Die 60-Jährige ist Realistin genug, um zu wissen: In einem Rosenkrieg hätte Taiwan nichts zu gewinnen. In ihrer Antrittsrede versprach sie stabile und friedliche Beziehungen. Sie werde sich an bestehende Abkommen halten und weiter die Zusammenarbeit suchen: "Wir müssen die Last der Geschichte beiseitestellen und konstruktiv miteinander reden, damit beide Seiten profitieren." Aber Tsai definierte nicht, wie von Peking gefordert, Taiwan als Teil des "Einen China". Sie unterstrich stattdessen, dass China auch den demokratischen Willen der Taiwaner zu respektieren habe. Und je jünger die Taiwaner sind, desto eher sehen sie China nicht mehr als verlorenes Mutterland, sondern nur noch als Nachbarn mit Kontrollwahn.

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