Neurath Ein Wunderschäfer auf Neurather Feldern

Neurath · Heinrich Mohr machte Neurath zu einem Wallfahrtsort: Menschenmassen reisten von nah und fern an, um sich heilen zu lassen.

Der Schäfer Heinrich Mohr brachte es Mitte des 19. Jahrhunderts zu großer Popularität. Der rothaarige Hüne aus Niederempt, der in Neurath seine Schafe hütete, stand im Ruf, ein Wunderheiler zu sein. Heerscharen von Menschen eilten zu ihm, um sich die Hand auflegen zu lassen. Mohr wurde reich - bis ihm selbst eine Krankheit ereilte.

Alles begann im Frühjahr 1842: Ein Mietknecht des Gutes Gürath, der von einem Pferd einen empfindlichen Tritt gegen das Schienbein erhalten hatte, wandte sich Hilfe schreiend an Schäfer Mohr. "Leg Dich hin", befahl er, beugte sich über den Verletzten, murmelte ein Gebet und machte drei Kreuzzeichen. Diese "Behandlung", die im Volksmund "Sympathie" genannt wurde, wiederholte Mohr an mehreren Tagen, bis dass der Mietknecht schließlich erklärte, er fühle eine gewaltige Linderung, der Schmerz sei nicht mehr zu spüren.

Eine Wunderheilung! Als Heinrich Mohr dann auch noch den 14 Jahre alten Peter Coenen, Sohn eines Hofgut-Besitzers aus Buchholz, von einem Leiden an der Hand befreite, war es geschehen: Das Gürather Gesinde brachte die unglaublichen Geschichten sensationsheischend unters Volks. Und nachdem Ostern 1842 der Ruf von der Wunderkur in viele Orte hineingetragen worden war, suchten Hilfsbedürftige aus nah und fern den "heiligen Schäfer" auf. Die Folge: Heinrich Mohr - von seiner Gebetskraft mittlerweile selbst überzeugt - widmete den Besuchern weitaus mehr Aufmerksamkeit als seinen ihm anvertrauten Schafen. Das erfuhr auch sein Chef, Clemens von Gürath, der seinen Bediensteten feuerte.

Das kümmerte Heinrich Mohr nur wenig. In Neurath fand er Unterkunft bei Pfarrer Heinrich Lennartz, der an die Wunderheilungen des frommen Mannes glaubte. Diese Fürsprache wirkte: Zu Fuß, zu Pferd, auf Karren und in Prunkwagen eilte das gläubige Volk zum "heiligen Schäfer".

Bis zum Spätherbst 1842 stand Neurath in seiner ganzen Länge nach vollgepfropft von Karren und Wagen. Jedes Haus wurde zur Herberge, dennoch fanden nicht alle Gäste ein Unterkommen. Viele übernachteten in ihrer Karre oder auf der Straße. Tausende Gerüchte waren über Heinrich Mohr im Umlauf. Hunderte von Kilometern kamen Heilsuchende nach Neurath.

Der Ruhm, den er genoss, machte den 45 Jahre alten Mann mit der Zeit eigensinnig. Zunächst war seine Behandlung kostenlos, später war es ihm willkommen, wenn man die offenen Seitentaschen seines blauen Kittels einige Geldstücke warf. Neider wollten sogar wissen, dass er ein Fass besaß, das mit so vielen Kupfer- und Silbermünzen gefüllt war, dass seine Kinder zuweilen mit den Geldstücken spielen würden.

Ein Unglücksfall in der Familie des Schäfers brachte seinen Ruhm jäh zum Sinken. Zwei Kinder erkrankten Ende 1842 an einem bösartigen Nervenfieber. All seine Heilversuche und Gebetskuren waren vergebens. Am 18. Dezember 1842 starb seine 13-jährige Tochter Katharina und einen Monat später sein sechs Jahre alter Sohn Matthias. Auch Heinrich Mohr selbst wurde von einer Krankheit befallen: Im März 1843 wand sich der Schäfer unter Schmerzen im Bett. Er ließ den damals bekannten Arzt Dr. Schaffrath aus Bedburg rufen, der ihn wiederherstellte. Dass er, der Wunderschäfer, durch ärztliche Hilfe geheilt wurde, kam seinen Widersachern mehr als gelegen. Die Zeitungen waren nun voll von der Entlarvung des vermeintlichen Heilers.

Die "Patienten" wurden weniger, eines Tages blieben sie ganz aus. Der Schäfer Heinrich Mohr erreichte ein Alter von 86 Jahren und lebte in ärmlichen Verhältnissen. Er starb am 8. Mai 1884. Als letztes Andenken an jene Tage seiner Berühmtheit bewahrte er ein silbernes Kruzifix auf, mit dem er einst "betuppte" und das er hoch in Ehren hielt.

(NGZ)
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