Macher Stefan Reichmann im Interview "Haldern ist ein Ort der Freundschaft"

Haldern · Der 53-jährige Stefan Reichmann ist Macher des Haldern-Pop-Festivals. Im Interview mit unserer Redaktion spricht er über seinen Heimatbegriff, das Schokoticket und gute Musik.

Haldern Pop Festival 2018: So lief der erste Tag
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Foto: Sebastian Latzel

Herr Reichmann, Haldern Pop ist auch eine große Inszenierung des Dorfes als Heimatort. Wie wichtig ist der Heimatbegriff für dieses Festival?

Reichmann Der Begriff Heimat ist spannend. Ich merke, wie er polarisiert. Wir bewerben unser Festival im Netz immer mit kleinen Filmen, in denen wir die nächsten bestätigten Künstler ankündigen. Den jüngsten Clip haben wir aus einem alten Heimatfilm namens "Wo die Linden rauschen" des Filmemachers Clemens Reinders aus dem Ort gestaltet. Immer, wenn das Wort Heimat zu hören war, haben wir stattdessen ein Störgeräusch eingespielt oder das geschriebene Wort "Heimat" schwarz überdeckt. Die Leute hier hat das irritiert, das habe ich an den Reaktionen gemerkt.

Was sollte dieser Kunstgriff?

Reichmann Es hat ganz offenbar dazu angeregt, über Heimat nachzudenken. Ich beobachte, dass sich viele Leute nicht richtig aufgehoben fühlen. Die sollen aber wissen, wo sie herkommen. Ich finde es wichtig, dass sich die, die das Dorf verlassen haben, und die, die geblieben sind, beim Wiedersehen verstehen. Dass man sich noch übereinander freuen kann, auch wenn man als passives Mitglied des Schützenvereins nur noch alle zwei Jahre im Dorf ist. Sich dann gut zu verstehen, zeichnet einen Ort, zeichnet Freundschaft aus.

 Stefan Reichmann: "Der Niederrhein ist immer Durchreiseland gewesen."

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Foto: Markus van Offern

Im Ort gibt es seit einigen Jahren die Haldern-Pop-Bar. Inwieweit kann die es schaffen, zu einem Ort für das ganze Dorf zu werden, zu Heimat?

Reichmann Am interessantesten ist es, wenn Leute in die Bar kommen, die sich sonst nicht trauen. Wenn Markttag ist, öffnen wir zu Anlässen wie Weihnachten oder Frühlingsbeginn am Mittwochsnachmittag. Es gibt Kuchen und Kaffee und dann kommen auch mal ältere Leute oder Frauen mit Kindern. Wir zeigen hier samstags auch Fußball. Da kommen auch Opas mit dem Enkel. Die Hauptfunktion ist aber die als Konzertort: Musiker auf der Durchreise spielen hier. Das bedeutet für uns eine große Verwirbelung von Lokalität und Internationalität.

Inwieweit prägt eine doch sehr subkulturelle Veranstaltung wie Ihr Festival den Niederrhein?

Reichmann Der Niederrhein ist immer Durchreiseland gewesen. Wir haben ja hier eher Porzellan gesehen als die Berliner. Die Tourismusbranche wirbt für unseren Landstrich übrigens mit dem Spruch "Typisch Niederrhein". Das verstehe ich nicht, das ist eine Formel, die an Beliebigkeit nicht zu überbieten ist.

Besteht die Gefahr, dass der Niederrhein ähnlich wie der Osten verwaist?

Reichmann Nein, es ist eine lebenswerte Region. Deshalb ist mir wichtig, dass wir noch Lehrer und Ärzte für den Niederrhein begeistern können. Die Aktion, die mich in diesem Kontext übrigens am meisten aufgeregt hat, ist, dass die Leute das so geschluckt haben, als der Nahverkehr das Schokoticket eingeführt hat.

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Foto: Klaus Dieker

Warum?

Reichmann Das mobilisiert Jugendliche, die werden zum Centro gekarrt, unsere Ortskerne bluten aus. Alles für einen Zehner, die Kosten wurden auf die Eltern umgelegt. Das hat Strategie. Es halten auch weniger Busse, die die Orte verbinden. Das lässt ländliche Struktur hier und da aussterben. Nur wenn es Musealcharakter hat, ist es akzeptiert.

Wer ist das bessere Publikum: Dorf oder Stadt?

Reichmann Mein Antrieb ist, ein generations- und genreübergreifendes Festival zu machen. Louis Armstrong hat mal gesagt: "Es ist nicht wichtig, was du spielst, sondern wie du es spielst."

Hat das Festival seinen Blick geweitet, ist genresprengender geworden?

Reichmann Du darfst nicht beliebig sein, aber musst dennoch Konsensmomente schaffen. Natürlich haben sich die Leute über Jan Delay aufgeregt, weil viele dachten, dass so ein Chartstyp hier nicht hingehört. Am Ende standen bei ihm aber so viele Leute vor der Bühne wie nie zuvor. Eine Schnittmenge finde ich wichtig. Trotzdem haben die Besucher die Möglichkeit, sich beim Festival zum Beispiel in die Bar oder ins Jugendheim zu verdrücken, sich ganz schräge Sachen anzugucken. Wenn ihnen das nicht schräg genug ist, können sie sich selber ans Feuer setzen und noch schräger sein. Die Vielfalt ist ziemlich umfangreich.

War das auch für Sie ein Lernprozess?

Reichmann Wir haben nie ausgelernt. Und ich mache mir auch gerade keine Sorgen, nur weil wir nicht ausverkauft sind. Die letzten 200 Karten dröppeln so dahin. Letztes Jahr gab es Leute vom Schwarzmarkt, die auf uns gesetzt haben. Das finde ich total widerlich, wenn Leute auf unser Festival spekulieren.

Was heißt es denn für das Haldern-Pop-Festival, wenn es nicht mehr so schnell ausverkauft ist?

Reichmann Viele Festivals müssen sich anstrengen. Das hat mit dem Wetter zu tun, vielleicht auch mit Terror-Ängsten. Es scheint eine größere Skepsis gegenüber Großveranstaltungen zu geben. Die großen Festivals wird es aber immer geben. Es gibt gewisse Künstler, die wirken nur auf großen Festivals. Die Sportfreunde Stiller zum Beispiel, die schaffen eine Taizé-Stimmung, ähnlich wie die Foo Fighters. Die brauchen die Kathedralen.

Das sind Beispiele von Bands, die vor 15 Jahren berühmt geworden sind.

Reichmann Das stimmt. Für ein Festival gilt: Die großen Namen sind oft auch die großen Enttäuschungen, weil die Leute immer zu viel erwarten und sich selbst zu wenig zutrauen. Die Leute wissen oft gar nicht, dass sie an einem guten Konzert zu einem wesentlichen Teil selbst beteiligt sind. Ein gutes Konzert hat auch mit einer Einstellung zu tun.

Man beobachtet bei Ihrem Festival Phasen: Erst kam elektronische Musik hinzu, dann Klassik, dann Jazz. Was kommt nun?

Reichmann Klassik ist unsere Rente. Da gibt es noch so viel zu entdecken. Für mich sind aber die Orte spannender als das Genre. Wir haben bei uns die Kirche als Konzertort beim Festival, die Haldern-Pop-Bar, das Jugendheim, das Spiegelzelt und die Hauptbühne. Alles findet zwischen Ortskern und Reitplatz statt. Wenn ich die Leute sehe, wie sie durch unser Dorf schlendern, sich eine Nussecke beim Bäcker kaufen und den Augenblick genießen, dann freut mich das.

Ihr Festival hat eine enge Verbindung zur Kirche. Das Festival ist als Idee von Messdienern entstanden, die Kirche und das katholische Jugendheim sind Spielorte des Festivals. Was bedeutet für Sie der Glaube, wenn Sie dieses Festival machen?

Reichmann Kirche hat uns sozialisiert. Kirche hat für mich immer mit Zuversicht zu tun gehabt, weil ich mir die Dinge da rausgezogen habe, die mir gefallen haben. Mit anderen Leuten was gemeinsam machen, das hat mir die Kirche im Dorf beigebracht. Dass die Kirche jetzt Konzertort ist, liegt übrigens an unserem ehemaligen polnischen Pastor. Der ist zum Festival gekommen, war neugierig. Nachher fragte er: "Warum macht ihr nichts in der Kirche?" Wir hatten uns nie zu fragen getraut.

Was geht in Ihnen an den drei Festivaltagen vor? Stress?

Reichmann Ich versuche, so viele der 70 Konzerte wie möglich zu schauen. Nur vier bis fünf schaffe ich nicht. Ich habe die Bands gebucht, also will ich ihnen zuhören.

Sie haben selbst sechs Kinder, wie kann man die für Musik begeistern?

Reichmann Mein ältester Sohn macht derzeit in Stockholm seinen Master, er hat schon richtig Lust auf Musik, hat auch schon Festivals organisiert und hilft zusammen mit meiner Tochter Johanna in Haldern und Kaltern. Helene, Josefa und Gustav sind bereits eifrige Gäste, aber noch zu jung, um mit anzupacken. Hugo interessiert das alles noch nicht, er vermisst unsere Aufmerksamkeit in den Tagen, da meine Frau Bernadette auch stark beim Festival eingebunden ist.

Was prägt Ihren Musikgeschmack? Gibt es Einflüsterer?

Reichmann Es gibt einige Leute, die verstanden haben, was ich gut finde, was passen könnte. Musikzeitungen lese ich nicht mehr. Ich orientiere mich eher an Empfehlungen von Musikern, Freunden und Kollegen, reise viel und besuche Festivals. Ich schätze es, dass ich bei solchen Festivals durch die Stadt schlendern, ein Glas Wein trinken und langsam in das Festival reinkommen kann.

Wäre nicht für Haldern auch Reduktion konsequent - weniger Bands, weniger Bühnen?

Reichmann So weit sind wir noch nicht, irgendwann vielleicht. Es gibt noch so viele gute Musik, die gehört werden sollte.

Wie lange machen Sie Haldern noch?

Reichmann Ich verspüre noch große Freude bei der Arbeit. Es ist so schön, dass viele junge Leute noch mitziehen und es immer noch ein gemeinsamer Genuss ist.

Fühlen Sie sich wie 53 oder jünger?

Reichmann Genau wie 53. Mich treibt die Lust auf Kultur. Die Menschen müssen merken, dass es Gebäude geben muss, in die man nicht morgens mit dem Blaumann reingeht und abends mit dem Auto unterm Arm raus. Wir brauchen Orte des Austausches, der Unterhaltung - wir brauchen Empathie. Wenn ich 100 Prozent bin, wie viel Prozent gebe ich für die Gesellschaft aus? Wenn man vor die Tür geht, kann man seinen Beitrag leisten.

(RP)
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