Brauchtumsgipfel Heimat - Wiedergeburt eines Gefühls

Düsseldorf · Acht prominente Rheinländer gaben am Montagabend bei der Rheinischen Post Auskunft über eine alte, neue Liebe: die Heimat.

So lief der Brauchtums-Gipfel bei der RP
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Das wird ja noch schöner! Dass das Brauchtum einen richtigen Gipfel braucht. Gerade so wie die Mächtigen dieser Welt. Denn eigentlich liegt das Brauchtum doch gleich vor der eigenen Haustür. Ja denkste.

Zum Brauchtumsgipfel waren von acht prominenten Rheinländern und bekennenden Heimatliebenden einige aus beträchtlicher Ferne angereist: etwa Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe, der eigens aus Berlin angeflogen kam, oder der Berliner Erzbischof Heiner Koch, der von der Synode im Vatikan herbeieilte; Schützen-Hochmeister Emanuel Prinz zu Salm kutschierte aus seinem Schloss Rhede in die Landeshauptstadt, und mit Bruno Schmitz - dem Mitbegründer der Stunksitzung - war sogar Köln vertreten.

Macht alles nichts, weil alle willkommen waren zum gestrigen Brauchtumstalk im Konferenzzentrum der Rheinischen Post. Und die hatte sich selbst ein bisschen Schützenhilfe gebastelt - drei Pappkameraden am Empfang, Karnevalsprinz, Fußball-Profi (von der echten Borussia) und Schützenschwester: ein paar Eckpfeiler, die der Heimat Gestalt geben.

Brauchtums-Gipfel: Das bedeutet für die Gäste Heimat
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Brauchtums-Gipfel: Das bedeutet für die Gäste Heimat

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Und vielleicht waren schon die Lebensgeschichten der prominenten Gäste eine erste Erfahrung von dem, was Heimat ist und sein könnte: dass sie nämlich nicht immer unbedingt dort sein muss, wo man gerade lebt. Und dass Heimatliebe uns manchmal lange Wege kurz werden lässt. Doch Heimat ist nicht nur lustig, folkloristisch und bierselig; und die vielen Flüchtlinge dieser Tage zeigen uns, wie groß und manchmal verzweifelt die Sehnsucht von Heimatsuchenden auch sein kann. Gleich zu Beginn machte darauf Horst Thoren, stellvertretender Chefredakteur der Rheinischen Post, aufmerksam, der zusammen mit den beiden Redakteuren Dorothee Krings und Frank Kirschstein durch den "Heimatabend" führte.

Die Flüchtlingskrise stellt uns nach Thorens Worten große Aufgaben, und viele der Gipfel-Zuschauer wussten davon ein Lied zu singen: "Weil Vereine immer gefragt sind, wenn mal praktisch angepackt werden muss, wenn mal schnell Hilfe organisiert werden soll, wenn der Einsatz von Bürgern gebraucht wird. Denn Vereine sind die Lebensadern von dem, was wir Gesellschaft nennen. Sie sind der konkrete Ort, die konkreten Menschen, bei denen auch Neuankömmlinge aus anderen Kulturkreisen Anschluss finden können."

Was eigentlich ist Heimat?

Promis aus dem Rheinland erklären: Heimat ist...
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Vor allem ist sie kein hohles, kein falsches Wort. Möglicherweise ist sie zunächst einmal nur das: Der Ort, an dem niemand nach dem Weg fragen muss, so Thoren vor der ersten von drei engagierten, aber auch nachdenklichen Gesprächsrunden der Heimatexperten. Erzbischof Heiner Koch wusste noch eine weitere Ortsbezeichnung: "Heimat ist da, wo ich mich auf Menschen verlassen kann und wo sich Menschen auf mich verlassen können."

Das sagt einer, der in Gottes Namen viel herumkommt und darum von sich behaupten muss, dass er sich trotz seiner rheinischen Wurzeln ein bisschen zwischen den Welten fühle. "Meine Heimat ist das Rheinland, wo ich zuhaus bin, weiß ich noch nicht", so der gebürtige Düsseldorfer, der erst kürzlich von Dresden nach Berlin gezogen ist. Dennoch (und sehr zur Freude der gut 130 geladenen Gäste) sei für ihn "der größte Sprung von Düsseldorf nach Köln" gewesen.

Ist Heimat gleich Brauchtum?

Keine Frage, ja! Jedenfalls für die niederrheinische Unternehmerin Christiane Underberg. Weil Brauchtum immer Bindung bedeutet. Auch darum nannte sie als Drama unserer Zeit, dass immer mehr Menschen aus solchen Bindungen herausfallen, besonders aus den Bindungen der Familien. Der Wandel der gesellschaftlichen Keimzelle zieht so auch einen Wandel von Heimaterfahrung nach sich und stellt Brauchtum vor neue Aufgaben. Christiane Underberg setzte solchen vermeintlichen Erosionen etwas entgegen, was vielleicht besonders häufig Heimatliebenden zu eigen ist: selbstbewusster Optimismus. "Es steckt an, wenn wir mit Begeisterung dabei sind und Begeisterung bei unserem Tun ausstrahlen." Gehört dann auch Kirche zum Brauchtum? Der Berliner Erzbischof hatte damit keinerlei Probleme, wenn Brauchtum die Weitergabe von Lebensweisheit meint, so Koch. Also Friede, Freude, Brauchtums-Eierkuchen?

Und die Krise des Brauchtums?

Es war der gleiche Heiner Koch, der dem Brauchtum nicht per se den Freifahrtschein für alles Gute und Wahre ausstellen wollte. Brauchtum sei kein absoluter Wert, weil Brauchtum eben mit allen Inhalten gefüllt werden kann und in der deutschen Vergangenheit auch missbraucht wurde. "Manchmal", so der Erzbischof, "kann Brauchtum auch sehr gefährlich sein." Koch weiß aus eigener, bedrückender Anschauung, wovon er spricht. Als Bischof von Dresden musste er die Entstehung der ausländerfeindlichen und rechtsextremen Pegida erleben - wie die Demonstranten durch die Straßen zogen und auch noch Weihnachtslieder anstimmten. Das ist die Fratze des Missbrauchs von Heimat und Brauchtum.

Doch auch andere konnten sich nicht mit allem einverstanden erklären, was an Lob und Frohsinn manchem Brauchtum so zugedacht wird. Bruno Schmitz beispielsweise hat nach eigenem Bekunden so sehr unter dem traditionellen Karneval gelitten, dass er vor etlichen Jahren seine beamtete Lehrerstelle an den Nagel hängte, um sich ganz dem scheinbar respektlosen Alternativkarneval der Stunksitzung zu widmen. "Wir schießen manchmal übers Ziel hinaus", so Schmitz, aber auch das sei wichtig und notwendig. Und der ungebrochen riesige Zuspruch der Stunksitzungen gebe ihnen dabei recht, so Schmitz. Wer mochte oder konnte dagegen schon etwas einwenden? Es war Erzbischof Koch, dessen Erfahrungen aus Dresden ihm das diktierten: "Nicht alles, was gefällt, ist erlaubt und zugleich auch richtig."

Dass aber auch scharfe Kritik am Brauchtum ein lebenswichtiger Teil des Brauchtums und seines Wandels sein könnte, wollte nicht jeder Zuhörer akzeptieren. Wann man denn endlich wieder zum Thema zurückkehre?, hieß es da lautstark. Etlichen behagte Brauchtumskritik nicht. Und eine Umfrage am Ende, wer sich vorstellen könne, einmal Schützenkönig und -königin zu sein, zeigte eine solide Grundmentalität an diesem Abend: Für mehr als die Hälfte der Gäste war die Krone als Zierde des eigenen Kopfes vorstellbar.

Das Thema aber blieb kritisches Brauchtum - und darum auch die Stunksitzung und andere "Übertretungen". Auch Jacques Tilly gehört zur Riege der Unerschrockenen, der mit seinen Karnevalswagen unter anderem in Düsseldorf bei manchem Vertreter aus Politik und Kirche schon für Angst und Schrecken sorgte. Tilly, so sagte er beim Gipfel, liebt vor allem zwei Dinge: Karneval als originäres Volksfest und als Spielwiese der Narrenfreiheit. Diese sei für ihn eine der größten Errungenschaften des Karnevals. Und der sei nach seinen Recherchen sogar älter als die Kirche, die er ohnehin nicht gerade schätzt. Und so freute er sich, dass bisexuelle oder schwule Karnevalsprinzen im Karneval nicht mehr aus ihren Ämtern gedrängt würden wie noch vor wenigen Jahren.

Das Brauchtum ist tot, es lebe das Brauchtum

Ungeachtet aller Unkenrufe und Gesellschaftsprognosen lebt das Brauchtum. Davon zeugten an diesem Abend viele Beispiele. Denn im Gegensatz zu anderen Organisationen - wie etwa den politischen Parteien - kennen Schützenvereine kaum Nachwuchssorgen. Zwar sind die Konkurrenzangebote insbesondere für junge Menschen immens, so Schützen-Hochmeister Emanuel Prinz zu Salm, doch bleibt die Zahl der Jugendlichen in den vergangenen Jahren konstant.

Ein übersichtliches Paradebeispiel im wahrsten Sinne des Wortes ist die Familie von Hermann Gröhe. Nicht nur der Gesundheitsminister ist aktiver Schütze (seit fast 34 Jahren), "auch alle meine vier Kinder marschieren im Schützenzug mit, weil sie das einfach klasse finden". Prinz zu Salm hat eine weit größere Schützenfamilie um sich geschart: 250.000 aktiven Schützen steht er hierzulande vor und weiß auch, wie intensiv die Vereine im sozialen Umfeld agieren und sich intensiv aktuellen Fragen stellen, wie der Debatte um muslimische Könige auch in christlich orientierten Schützenbruderschaften. Die sei im übrigen nicht so frisch, wie viele vermuteten. Schon vor sechs Jahren habe man in Neuss ein muslimisches Mitglied ermuntert, am Königsschießen teilzunehmen, so Thomas Nickel, der Präsident der Neusser Bürgerschützen ist.

Ist das schon alles Brauchtum?

Die Debatte - das zeigten am Ende die Zuschauerfragen - war beunruhigend lückenhaft. Beruhigend wiederum war, dass der Gipfel auch nach einer Synodenlänge von drei Wochen voller Lücken geblieben wäre. Ortsbildpflege? Martins-umzüge? Brauchtum und Heimat sind ein weites Feld - und wohl dem, der für sich und aus voller Überzeugung seine Leidenschaft als Brauchtumspflege versteht. Wie Rolf Königs, Präsident des Bundesligisten Borussia Mönchengladbach, der den Fußball auch als "Ganzjahresbrauchtum" verstanden wissen will, weil "er die Menschen bei guter Laune hält".

Und zum Schluss: Heimat ist auch etwas Persönliches

Das auf alle Fälle, und unabhängig von Alter und Beruf. Auch darum gab sich Horst Thoren am Rande bewusst unjournalistisch und beschloss den Brauchtumsgipfel der Rheinischen Post weder mit einem Manifest noch mit einem Communiqué, sondern mit einem persönlichen Bekenntnis: "Heimat ist für mich ... Unges Pengste in Korschenbroich. Das große Schützenfest verbindet Lebensfreude mit Heimattreue, ist offen für alle, führt Menschen zusammen."

Zum Schluss nahm jeder Gast noch ein Stück Heimat mit nach Hause: einen Kiesel aus dem nahen Rhein.

(los)
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