Nach Insolvenz von BenQ-Siemens Kamp-Lintfort - sieben Jahre nach der Handy-Pleite

Kamp-Lintfort · Im September 2006 beantragte das Mobilfunk-Unternehmen BenQ-Siemens Insolvenz. Rund 3300 Mitarbeiter verloren damals ihren Job. Die meisten der ehemaligen Mitarbeiter haben zwar längst wieder Arbeit gefunden. Doch der Verlust hat Spuren hinterlassen.

BenQ: Tränen am letzten Arbeitstag
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Über die Trennung von Siemens erzählt man sich in Kamp-Lintfort Geschichten, die nicht aufgeschrieben werden können, ohne dass man umgehend Post von den Rechtsanwälten des Münchner Konzerns bekommt. Obwohl die Mitarbeiter der einstigen Siemens-Mobilfunksparte, die erst an BenQ weitergereicht und dann arbeitslos wurden, heute fast alle wieder in Lohn und Brot sind und sich ihr einstiger Arbeitgeber am Ende durchaus großzügig zeigte, ist kaum einer gut auf ihn zu sprechen. Warum? "Weil wir uns hintergangen fühlen", sagt Peter Bachmann.

Er geht über das ehemalige Werksgelände in der niederrheinischen Kleinstadt. Zehn Jahre hat er hier in der Handyproduktion gearbeitet. Ende 2006 war Schluss, doch bis heute hat er keinen Frieden geschlossen mit der Art, wie Siemens sich der Mobilfunksparte samt aller Mitarbeiter entledigte. Es begann im Juni 2004 mit den Verhandlungen über eine Ausnahmeregelung vom Tarifvertrag der Metaller. Die Siemens-Führung wollte die Kosten senken, und darum sollten die Mitarbeiter an den Standorten Bocholt und Kamp-Lintfort künftig 40 statt bisher 35 Stunden in der Woche arbeiten, bei gleichem Lohn. Zudem sollten sie auf Weihnachts- und Urlaubsgeld verzichten. Sollten sich die Arbeitnehmervertreter weigern, so die Drohung der Konzernleitung, würden 2000 Arbeitsplätze nach Ungarn verlegt werden.

Ausverkauf bei BenQ
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Um dieses Horrorszenario zu verhindern, lenkten die Vertreter der Gewerkschaft IG Metall schweren Herzens ein — zum Unmut vieler Mitarbeiter, bedeutete die Einigung für die meisten doch rund 25 Prozent weniger Lohn. Und es kam noch schlimmer. Die Kürzungen waren nur der Anfang einer Ereigniskette, die im Nachhinein wie ein abgekartetes Spiel anmutet. Nur ein Jahr später, im Juni 2005, trat Siemens seine Mobilfunksparte inklusive aller Patente an den taiwanesischen Hightech-Produzenten BenQ ab. Der Münchner Konzern verkaufte die Sparte nicht, sondern zahlte sogar noch drauf — mehr als 400 Millionen Euro betrug die Mitgift.

Die Taiwanesen führten ihre unter dem Namen BenQ Mobile (Markenname BenQ-Siemens) firmierende Deutschlandtochter ein knappes Jahr weiter — dann beantragte das Unternehmen Insolvenz. Kurz vor Ablauf der Beschäftigungsgarantie, die ihnen Siemens als Gegenleistung für die Lohneinbußen 2004 gegeben hatte, verloren somit rund 3300 Mitarbeiter ihren Job: 1400 aus der Verwaltung und der Entwicklung in München, 300 aus der Reparatureinheit in Bocholt, 1600 aus der Produktion in Kamp-Lintfort. "Das war wie ein Schlag ins Gesicht", sagt Bachmann.

Er ist an diesem Tag zum ersten Mal wieder am Ort des Geschehens, dreht jetzt schon die dritte Runde um die fußballplatzgroße Halle, in der früher die Handys gefertigt wurden. Unkraut erobert zunehmend das Terrain. Keine Menschenseele weit und breit. Bachmann erinnert sich genau, wie Joe Kaeser, damals Finanzchef der Mobilfunksparte, heute Vorstandschef von Siemens, nach Kamp-Lintfort kam, um den Verkauf an BenQ zu verkünden. "Eiskalt war der", sagt Bachmann. Er selbst sei damals ans Mikrofon gegangen, um Kaeser zu fragen, auf welcher Münchhausenkugel er eigentlich hierhergeflogen sei. "Man muss sich das einmal deutlich vor Augen führen: Erst verzichten wir auf viel Geld, und dann werden wir kurz darauf abserviert. Das stinkt doch zum Himmel."

Obwohl Bachmann einen neuen Job hat, sitzt seine Verbitterung tief, eine Verbitterung, die viele Kamp-Lintforter mit ihm teilen. Der Siemens-Konzern war ihr Leben, für ihn aber waren sie am Ende nichts als ein lästiger Kostenfaktor. Ihr Schicksal bewegte die gesamte Republik und beschädigte das Image von Siemens nachhaltig. "Es darf kein zweites BenQ geben" lautet bis heute ein geflügeltes Wort.

Für Loyalitäten gebe es in der modernen Arbeitswelt immer weniger Platz, lautet eine These des Saarbrücker Organisationsforschers Christian Scholz. Unter Renditedruck stehende Manager scheuten sich nicht, Mitarbeiter bei nachlassender Konjunktur oder internen Umstrukturierungen zu feuern. Umgekehrt gingen gefragte Mitarbeiter kurzerhand von Bord, sobald ein besserer Job winkt. Egoismus auf beiden Seiten. Hatten die Kamp-Lintforter also schlicht unzeitgemäße Erwartungen, als sie sich im Herbst 2006 im Stich gelassen fühlten? "Nein", sagt Scholz. Betrogen fühlen sich gefeuerte Mitarbeiter immer dann, wenn ihnen vorher vonseiten des Arbeitgebers Loyalität abverlangt und im Gegenzug auch versprochen worden ist. Das Problem besteht kurz gesagt darin, dass nicht mit offenen Karten gespielt wird.

Bachmann heuerte 1996 bei Siemens an. Er hielt seinen Arbeitsvertrag für ein Treuebekenntnis auf Lebenszeit. "Unser Personalleiter pflegte bei Neueinstellungen immer zu sagen: ,Wenn du keine goldenen Löffel klaust, wirst du hier alt'." Dass er, ein gelernter Stuckateur, im Werk binnen acht Jahren vom Verpacker zum Materialbereitsteller, zum organisatorischen Unterstützer und schließlich zum Verantwortlichen für eine der 24 Produktionslinien aufsteigen konnte, war einer der Gründe, warum er sich gegenüber Siemens so verpflichtet fühlte.

Am Freitag, dem 29. September 2006, gegen 10 Uhr hatte BenQ für sein Deutschlandgeschäft Insolvenz beantragt, um 14 Uhr traf sich Insolvenzverwalter Martin Prager in der Münchner Zentrale zur Geschäftsübergabe mit dem BenQ-Siemens-Chef Clemens Joos. Angelika Scheer, 56, wird diesen Tag "nie vergessen". Sie sitzt heute in Kamp-Lintfort am Empfang des Rathauses. Zuvor hatte sie, eine ausgebildete Friseurin, viele Jahre an einer der Linienstationen im Werk Handys montiert. Später stieg sie zur Qualitätsprüferin auf. "Die Arbeit hat unheimlich viel Spaß gemacht." Umso schlimmer war das Ende. Tränen, Ratlosigkeit und Verzweiflung, so beschreibt Scheer das Aus im September 2006.

Von der Insolvenz erzählte ihr ein Kollege, der die Nachricht im Radio gehört hatte. In der Woche darauf musste sie von einem auf den anderen Tag ihren Spind räumen. "Unternehmen lassen bei Trennungen allzu oft Anstand und Respekt vermissen — mit schweren Folgeschäden für die Gesundheit der Entlassenen, das Image der Unternehmen und die Motivation der verbleibenden Mitarbeiter." Das sagt Laurenz Andrzejewski, Managementberater und Autor des Standardwerks "Trennungs-Kultur und Mitarbeiterbindung". Das Wichtigste sei, dass man Entlassene nicht wie eine Nummer behandle, sondern persönlich auf sie eingehe. Darum müsse der Vorgesetzte das Trennungsgespräch führen und nicht irgendein Personaler, der den Mitarbeiter kaum kennt.

Bei einer Insolvenz müsse eine funktionierende Kommunikation von oben nach unten sichergestellt sein, sodass jede Abteilung von ihrem Leiter davon erfahre, bevor die Medien berichteten. Das schlechte Trennungsmanagement kann man Siemens nicht vorwerfen. Das lag in den Händen von BenQ. In den Tagen danach aber geriet der Konzern in Verdacht, sich aus der Verantwortung stehlen zu wollen.

Betriebsräte fanden heraus, dass man den Mitarbeitern im Juni 2005 fälschlicherweise mitgeteilt hatte, dass sie in den BenQ-Mutterkonzern übergehen würden — die Entdeckung sorgte dafür, dass ein Großteil der Mitarbeiter nachträglich Widerspruch einlegte. Siemens drohte zur Wiedereinstellung von rund 2000 Beschäftigten verpflichtet zu werden. In dieser Situation machte der Konzern großzügige finanzielle Zusagen. Das alles kostete Siemens einen dreistelligen Millionenbetrag.

Mehr als 80 Prozent der Menschen, die Anfang des Jahres 2007 in die Transfergesellschaft gewechselt waren, fanden später wieder Arbeit. Die Verzweiflung verschwand, aber ihr Groll blieb. Peter Bachmann hatte sich in der Transfergesellschaft zur Fachkraft für Lagerlogistik ausbilden lassen. Heute ist er Leiter Wareneingang in einem mittelständischen Betrieb. Allein für ihn dürfte Siemens nach der Insolvenz 50 000 Euro hingeblättert haben, sagt er. "Viel Geld — aber von der eigenen Familie will man auch für 50 000 Euro nicht verkauft werden."

Der Autor, Mischa Täubner, ist Redakteur beim Wirtschaftsmagazin "brandeins".

(RP)
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