Düsseldorf Orchestermärchen aus Birmingham
Düsseldorf · Denkwürdiges Symphoniekonzert unter Andris Nelsons in der Tonhalle.
Der Himmel Richard Wagners steht in der Tonart A-Dur. Ihr Pinsel tupft im Vorspiel zum ersten "Lohengrin"-Akt den "klarsten, blauen Himmelsäther", wie Wagner einmal schrieb. Nie hat er die Idee des Übersinnlichen bannender in Töne gefasst; Musik wandelt sich zu Farbe, ein Azur aus lauter leisen Geigen, eine Gloriole zum Staunen.
Der Himmel des Dirigenten Andris Nelsons folgt diesen paradiesischen Vorgaben erhebend musikalisch. Sein Himmel verliert — wenn das City of Birmingham Symphony Orchestra ihn malt — alle Ecken, alle Kanten, alle Taktstriche. Zarte Wölkchen treiben aus verschiedenen Himmelsrichtungen zueinander, und wenn die Holzbläser einsetzen, geschieht das fast ohne Ansatz, es ist nur wie eine Kolorierung. Im Wagner-Jahr ist eine derart weich konturierte Brillanz selten.
Der 34-jährige lettische Dirigent lehrt uns an diesem denkwürdigen Abend in der Düsseldorfer Tonhalle mehrere Künste. Das Urerlebnis ist ein optisches: wie sich ein Dirigent schier in einen leitenden Mitarbeiter der Firma Hochtief verwandelt. Jedes Pianissimo bereitet er in der Hocke vor, beim Forte wächst er über sich hinaus, wie ein Kran, der Akkorde verteilt und das Getümmel überblickt. Nie sieht das aus, als dirigiere Nelsons für die Galerie; seine Körpersprache ist völlig organisch, sie zappelt nicht, sondern lenkt die Musik als großen Fluss, in dem alles eng und dicht beieinander ist, alles aus jedem hervorgeht. Es ist eine Lehrstunde über das Dran-Bleiben als den Motor der Intensität.
Sogar ein totgerittenes Werk wie die Sinfonie Nr. 9 e-moll ("Aus der neuen Welt") von Antonín Dvořák gewinnt in dieser evolutionären Art des Musizierens neue Seiten. Es ist, als fließe die Moldau durch Arizona: endlose Weiten und folkloristischer Schwung. Hinreißend, wie das Orchester im langsamen Satz die Stille der Prärie ins nasskalte Düsseldorf transferiert; wie es den Drive der ersten Eisenbahnen durchs Finale treibt. Zwischendurch werden, etwas irritierend, Böcke geschossen, vor allem von den Bläsern. Trotzdem staunen wir über dieses wunderbare Orchester, das auf kleinste Gesten sehr fein reagiert — und im Fortissimo trotzdem eine makellose Disziplin des Klangs abstrahlt.
Vor der Pause dementiert die französische Pianistin Hélène Grimaud das Gerücht, Elfen könnten keine Bäume fällen. Sie spielt Johannes Brahms' 1. Klavierkonzert d-moll sehnig und virtuos, mit Überredungslust und trefflicher Attacke. Eine Offenbarung ist aber das Adagio: Madame träumt die Musik vor sich hin, nimmt sich alle Zeit der Welt und wird so sehr eins mit der Natur, dass die Rohre der Klarinetten fast zu weinen beginnen. Die Zugabe lässt uns weiße Zellstoffprodukte aus der Tasche nesteln und ans Auge halten: Grimaud spielt Sgambatis berühmte Klavierfassung von Glucks "Klage des Orpheus". Wo sind wir? Im Altertum? Jedenfalls herrlich weit weg.