Kiew/Düsseldorf Düsseldorfer protestiert auf dem Maidan

Kiew/Düsseldorf · Er stammt aus der Ukraine, lebt und arbeitet in Düsseldorf: Der Künstler Aljoscha erstaunte die Demonstranten auf dem Maidan-Platz mit einer Kunst-Aktion. Viele der Anwesenden halfen ihm.

2014: Die Gesichter des Protests in Kiew
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Eine Stecknadel könnte man in den Räumen der Düsseldorfer Galerie Beck & Eggeling fallen hören. Und doch schafft es der Mann mit dem sanften, verschmitzten Lächeln und der Brille mit dem schwarzen Gestell, der da entspannt im Klappstuhl sitzt, Schlachtengetümmel und den Schrecken explodierender Blendgranaten heraufzubeschwören: Der Künstler Aljoscha hat sich in Kiew unter die Demonstranten auf dem Maidan-Platz gemischt, als die Gewalt Ende Februar eskalierte.

"Es war, als sei ich in einer Zeitmaschine ins Mittelalter gereist", erzählt der 40-Jährige, der gerade seine neuesten Werke in der Galerie unweit der Düsseldorfer Altstadt zeigt. "Weil die Menschen sich nicht schützen konnten und keine Waffen hatten, rissen sie die Steine aus dem Pflaster und nutzen zugleich Backbleche als Schilde. Aus der Menge formierte sich ein einziger, eigener Organismus, der innerhalb von 20 Minuten aus Reifen eine Barrikade aufbaute. Jeder wusste, was er zu tun hatte, und ich fühlte keine Angst — auch als Panzerwagen die Barrikade durchbrachen, Tote und Verletzte an mir vorübergetragen wurden." Ein Erlebnis, das ihn auf die Idee zu einem Happening brachte: ein Kunstwerk aus blutroter Farbe in schwarzen Gummischuhen, das er auf und über die Barrikaden warf — oder besser: schweben ließ.

Nach den Protesten schließt der Maidan seine Wunden
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Nach den Protesten schließt der Maidan seine Wunden

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Aljoscha heißt eigentlich Aleksey Alekseevich Potupin und stammt aus Glukhov in der Ost-Ukraine. Sein Vater ist Russe, seine Mutter Ukrainerin, sie wohnt heute ebenso wie Aljoschas jüngerer Bruder Dimitri in Kiew. Ihn selbst zog es vor rund 20 Jahren nach Düsseldorf, wo er heute lebt und arbeitet. "Ich war fasziniert von den Bildern Konrad Klaphecks. Sie sind so präzise, cool und manchmal monströs", sagt er.

Als Gasthörer diskutierte Potupin mit Professor Klapheck und dessen Studenten über seine Zeichnungen und Gemälde, vor allem aber über die organischen Strukturen, die er in seinem Atelier heranwachsen lässt: Schritt für Schritt trägt der Künstler Acryl- und Öl- oder Silikonfarben auf ein Skelett auf, das meist aus stabilem Draht besteht. So kommt im übertragenen Sinne das Fleisch an die Knochen der komplexen, filigranen Figuren, die zu neuen Lebewesen werden. Sie scheinen elegant auf stelzenartigen Beinen zu balancieren, manche erinnern an See-Anemonen. Andere wiederum ringeln sich wie Krakenarme — so auch diejenigen, die er in Kiew in den groben Galoschen platzierte. Sind es Pflanzen, Tiere oder Gewebeformen? Die Antwort ist: von allem etwas. "Als Künstler werde ich zum Designer von Arten, die ihre eigene Berechtigung besitzen", sagt Aljoscha über seine Objekte.

Sein Happening auf dem Maidan-Platz ist für ihn ein eigenes, nicht politisch motiviertes Statement: "Sonst wäre es Propaganda, und das will ich nicht. Kunst ist für mich eine Art Religion, die keine Funktion erfüllt. Ich versuche permanent, etwas von neuartigem ästhetischen Wert zu schaffen. Dabei geht es um Gefühle, nicht um den Aufbau eines Staates."

Aljoscha bedeutet übersetzt in etwa "Beschützer" — vielleicht auch, weil er sich als derjenige sieht, der ein wachsames Auge auf seine originellen Geschöpfe haben muss. Denn es gehört zu seiner Arbeit, diese auf Straßen und Plätzen zu zeigen und zu beobachten, wie die Menschen darauf reagieren. Die "fliegenden Schuhe von Kiew" haben für den Wahl-Düsseldorfer eine vielseitige Bedeutung: "Sie sind für mich eine Art Traumschiff, ein Lebensraum für meine Skulptur, die sich in den Schuhen befindet. Ich denke zugleich an die Figur des ,kleinen Muck' aus dem Märchen von Wilhelm Hauff, der in seinen Schuhen fliegen konnte, aber auch an Muslime, die Schuhe als Beleidigung werfen."

Die Gummischuhe, die aus dem gleichen Material wie die brennenden Reifen der Kiewer Barrikaden bestehen, sollten "das Volk als ein Wesen erkunden und die Barrikaden von beiden Seiten sehen". So warf er sie in die Luft — mit Staunen beobachtet von den Demonstranten auf dem Maidan-Platz. Viele halfen ihm, kletterten auf die Barrikaden und brachten ihm seine Objekte zurück. Dennoch flog ein Schuh ins Feuer und verbrannte, den anderen brachte Aljoscha heil zurück nach Düsseldorf.

(RP)
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