Staatspreis NRW für Roberto Ciulli "Ich blicke auf die Welt wie ein Clown"

Düsseldorf · Der langjährige Leiter des Theaters an der Ruhr in Mülheim bekommt heute den Staatspreis NRW für sein kluges, kritisches Lebenswerk. Interview mit Roberto Ciulli.

 Roberto Ciulli, langjähriger Leiter des Theaters an der Ruhr in Mülheim.

Roberto Ciulli, langjähriger Leiter des Theaters an der Ruhr in Mülheim.

Foto: dpa

Geht der Staatspreis NRW in diesem Jahr an einen Clown?

Ciulli Ich habe die großen Clowns immer bewundert. Den besonderen Blick, mit dem sie die Realität betrachten, versuche ich auch für mich gelten zu lassen. Die Kunst der Clowns entsteht oft durch eine Verletzung, deswegen haben sie eine rote Nase. Durch den erlittenen Schmerz wird der Clown zum Widerstandskämpfer. In dem Sinn haben Sie Recht, der NRW Staatspreis geht in diesem Jahr an einen Clown.

Zumindest wird Ihr Theater oft als clownesque beschrieben. Trifft das?

Ciulli Es freut mich, dass der clownesque Blick auf die Wirklichkeit, der von den Zwängen des Alltags befreit, in unserem Theater sichtbar wird. Dies zieht sich durch unsere Inszenierungen wie ein roter Faden. Wir geben uns nicht mit dem Offensichtlichen zufrieden, wir wollen die Realität dialektisch auf ihre Widersprüche befragen.

Welche Widersprüche begegnen Ihnen denn in der Realität?

Ciulli Im Theater zum Beispiel habe ich eine reiche Tradition gesehen, die erst einmal etwas Gutes hat, weil das Theater in Deutschland handwerklich und technisch auf einem sehr hohen Niveau arbeitet. Ein traditionelles Publikum ist aber oft nicht bereit, sich mit Unbekanntem auseinanderzusetzen. Aber genau das ist unser Ziel: den Zuschauern nahebringen, was sie noch nicht kennen, ihnen neue Sichtweisen eröffnen. Jede Inszenierung ist eine Reise. Aber eben keine Pauschalreise, bei der man sein Geld zurückfordern kann, wenn etwas nicht dem Erwarteten entspricht. Auf Reisen darf man sich nicht wundern, wenn zum Beispiel nicht alle Deutsch sprechen und nicht so denken wie wir. Den Blick der Moderne, der hinter die Wirklichkeit schauen will, ins Theater zu bringen, löst beim Publikum bis heute Widerstände aus.

1980 haben Sie sich aus dem Stadttheatersystem verabschiedet, ein kleines Ensemble gegründet, das seither von demselben künstlerischen Team geleitet wird. Wie haben Sie Ihren avantgardistischen Ansatz vor dem Altern bewahrt?

Ciulli Mit dem Blick des Clowns. Wenn man sich einmal eine blutige Nase geholt hat, vergisst man das nicht, sondern läuft weiter in diese Richtung, bis man auf den nächsten Widerstand stößt. Allerdings war unsere Ästhetik in den 80er Jahren noch ein Skandal, heute nicht mehr. Doch auch heute weiß das Publikum nicht, was es von einer Inszenierung des Theater an der Ruhr zu erwarten hat. Obwohl es seit der Gründung des Theater an der Ruhr keinen Wechsel in der Künstlerischen Leitung gegeben hat, bleiben wir doch nie gleich und erfinden immer Neues. Diese Kontinuität auf Seiten des Ensembles, der künstlerischen Leitung und des Publikums ist sicher einmalig in Deutschland.

Wie bewahren Sie diese Kontinuität in immer kurzatmigeren Zeiten?

Ciulli In Mülheim haben sich Leute gefunden, die sich bewusst verabschiedet haben von den Gesetzen des Konsums. Wir produzieren nicht eine Premiere nach der anderen und schmeißen sie dann weg. Wir glauben daran, dass es einen Wert hat, wenn ein Schauspieler lange an einer Rolle arbeitet und wenn ein Ensemble lange zusammenbleibt. Wir glauben nicht an den ständigen Wechsel, das immer Neue. Wir spielen unsere Stücke über viele Jahre, und die Menschen schauen sich an, wie sie sich bei uns entwickeln. Wenn es eine kollektive Intelligenz gibt, woran allerdings zu zweifeln ist, dann kann sie sich im Theater entfalten. Daran glaube ich. Darum mache ich Theater.

Sie werden nächstes Jahr 80 Jahre alt, denken Sie über Ihre Nachfolge nach?

Ciulli Ein wahrer Reisender kann seine Reise nicht beenden, bis ihm gesagt wird, dass sie endgültig zu Ende ist. Ich würde natürlich aufhören, wenn ich merkte, dass niemand mehr sehen wollte, was ich auf der Bühne treibe. Dann ginge das Theater ja an mir kaputt, das könnte ich nicht wollen. Aber dafür gibt es bisher keine Anzeichen. Für mich ist die Frage entscheidend, ob die Gefährten, mit denen ich nun schon so lange reise, weiter mit mir unterwegs sein wollen.

Kann Ihr Theater mit einem kleinen Ensemble, vielen Gastspielreisen ein Modell sein für die Stadttheater im Land, deren Etats schrumpfen?

Ciulli Wir sind schon ein Modell geworden. Etwa mit unseren Verträgen, die nur einen Tarif kennen, egal ob jemand Schauspieler ist, Techniker oder in der Verwaltung des Theaters. Wir haben auch schon immer mit Theatern in der ganzen Welt zusammengearbeitet und haben projektweise geplant. Das verschafft Spielräume, steigert die Qualität. Das alles ist heute auch an den Stadttheatern Praxis. Ich habe schon in den 80er Jahren gesagt, dass an jedem deutschen Stadttheater mindestens einmal im Monat in türkischer Sprache gespielt werden müsste. Heute gibt es das — fast.

Sie sind 1965 aus Italien nach Deutschland gekommen. Welche Bedeutung hat es für Sie, einen deutschen Staatspreis zu bekommen?

Ciulli Das ist eine große Anerkennung für das Theater an der Ruhr, für alle, die jemals dort gearbeitet haben. Außerdem für das Publikum, das uns die Treue gehalten hat — auch als unsere Ästhetik die Menschen noch gespalten hat. Und es ist eine Anerkennung für die Politiker in Mülheim, die die Größe hatten, uns ihr Stadttheater anzuvertrauen, damit wir daraus das Theater an der Ruhr machen konnten. Das war großzügig und hat Mut gekostet — wir arbeiten daran, dass es sich immer weiter lohnt.

DOROTHEE KRINGS FÜHRTE DAS INTERVIEW.

(RP)
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