Düsseldorf Im Rausch auf der Suche nach Gott

Düsseldorf · "Betrunkene", ein Stück des russischen Dramatikers Iwan Wyrypajew, wurde im Düsseldorfer Schauspielhaus uraufgeführt. 14 Schauspieler boten dem Publikum in einem gigantischen Bühnenraum einen packenden Abend.

Schwarz und mysteriös hebt der Abend an. Die offene Bühne ist geweitet zum Kosmos, streng komponiert. Die schräge Ebene mit Schachbrettmuster zerteilt den Raum, oben im Schnürboden hängen Möbel. Rechts und links unten hocken Frauen und Männer in einer Art Orchestergraben. Sie knistern und rasseln mit Alltagsgerät, zerknüllen Papier, so dass es wie leiser Donner klingt. Sie lassen Stahlkugeln durch Trichter in eine Schüssel sausen, um metallisches Gezwitscher zu erzeugen.

Die 14 sind extrem frisiert. Hochtoupiert wurde selbst das kürzeste Männerhaar. Sie sind jung, exzentrisch, körperverliebt, offensichtlich Mitglieder einer hippen, mondänen Gesellschaftsschicht, Banker, PR-Leute, Models, Manager, der Direktor eines internationalen Filmfestivals – daneben ein schönes junges Mädchen, eine Ehefrau, eine Prostituierte.

Mit diesen Menschen führt der russische Gegenwartsdramatiker Iwan Wyrypajew zwei Stunden eine Neubefragung des Lebens in der aktuellen Gesellschaft durch. Er hat "Betrunkene" für das Düsseldorfer Schauspielhaus als Auftragswerk geschrieben. Er nennt es "Komödie", obwohl einem das Lachen im Halse stecken bleibt. Der Titel soll andeuten, die Protagonisten sind äußerst sensibel und wahrheitsliebend.

Sie stolpern, torkeln und schlittern in diesem Zweiakter über die schiefen Ebenen ihres Lebens. Bekannt ist, dass Alkohol die Zunge löst. Dass Betrunkene und Kinder die Wahrheit sagen und ihre Botschaften gerne in Endlosschleife wiederholen. Was also passiert hier, wenn immer neue Gruppen von alkoholisierten Menschen sich formieren und interagieren?

Die Unvollkommenheit und die Widersprüchlichkeit der Welt scheinen die Grundvoraussetzungen für die Charakterzüge der Figuren von Wyrypajew zu sein, die der ebenfalls russische Regisseur Viktor Ryschakow in eindringlicher Weise zueinanderordnet. Oft ist schon die Körpersprache alleine das Pantomimische, Anlass, diese Typen zu verstehen auf ihrer wankenden Wanderung durch ihr Leben. Es werden Sketche gespielt, in denen es um existenzielle Fragen geht, um Liebe, Freiheit, Wahrheit und Lüge, Göttlichkeit und Angst. Man liebt und berührt und küsst einander, völlig unverbindlich, skurril, nur selten glaubhaft.

So ähnlich verlaufen auch die Dialoge. Ein Wort gibt das andere wie in einer Satzergänzungsmaschinerie. Oft klingt es geradezu absurd, existenzialistisch, dadaistisch. Man setzt sich lange rote Nasen auf in dem Sketch, in dem offensichtlich viel gelogen wird. Manchmal klingt es wie bei Loriot. Die Suche nach dem Göttlichen im Menschen ist immer wieder Gegenstand der Gespräche. Der Autor sagt: "Für einen russischen Schriftsteller gibt es kein anderes Thema in der Literatur als Gott. Traditionell geht es immer um Gott oder um sein Fehlen." Seine Bühnenmenschen suchen den göttlichen Funken, "alle sind Gott", sagt einer, "auch der Mörder deines Bruders."

Geben und Nehmen scheinen in dieser Gesellschaft aus dem Gleichgewicht geraten zu sein, am Ende machen dieses Missverhältnis der Leiter der Filmfestspiele und die Prostituierte klar – in einem furiosen schauspielerischen Pas de deux. Geben ist schwer, heißt es da, nehmen ist leicht. "Es gibt keine Freiheit", wird an anderer Stelle verhandelt, "doch welche Freiheit meinen wir?" "Alles ist Lüge, nur Gott lügt nicht, er scheißt drauf, was wir denken."

Die drastischsten Ausdrücke werden jetzt bemüht, alles, was schlecht ist und ärgerlich und unbefriedigend, ist "verfickt und scheiße" – diese beiden Wörter fallen immer häufiger. Das nervt, so dass am Ende ein großer Teil des Publikums sich darüber beschweren wird. Dabei sollte man es einfach hinnehmen, als Stilmittel akzeptieren. Weil die üblen Wörter immer dann Anwendung finden, wenn der Ekel einerseits und die Sprache andererseits offenbar keine Steigerung mehr kennen.

Mehr als zwei Stunden spielen die 14 Menschen dieses fanatische Suchspiel, diese obsessiven Fragerunden, diese redundanten Podiumsdiskussionen. Man spürt, die Zeit der großen Geschichten ist heute längst vorbei, das Leben ist zerhackt in Einzelepisoden. Die soziale Gemeinschaft zerfällt in getriebene Individuen. "Ich bin 32, unsere Generation führt nichts mehr, wir haben den Bezug zur Realität verloren!", sagt einer. Ein anderer bekennt: "Wir alle wollen Glück!", ein dritter erklärt: "Liebe ist alles!"

Das Stück geht am Ende auf, auch wenn es Längen aufweist. Es geht deshalb auf, weil das Regieteam den Raum fantasievoll ausschöpft. Weil man die wunderbaren Düsseldorfer Schauspieler in diese Rollenspiele des alltäglichen Lebens steckt, die sie vergnüglich, gerissen und eindringlich abwickeln. Das schöne Mädchen spielt treuherzig Patrizia Wapinski, dem Mark verleiht Dirk Ossig eine großartige Ausstrahlung, als Banker Gustav berührt uns Rainer Galke, sein Kollege Karl gibt Michael Abendroth als coolen Schlawiner, dämonisch ist die Rede des Gabriel von Berlepsch.

Bei den Frauen berührt Jennifer Frank als Rosa besonders sowie Verena Reichhardt mit der langen Nase, Sarah Hostettler und Stefanie Rösner liefern sich ein feinsinniges Liebesduell. Sie alle sind tief im Stoff und involviert ins Geschehen, so dass ein sezierender Blick auf die gegenwärtige Gesellschaft möglich wird, der zugleich ein Kommentar zur Zeit ist. Es gab genug warmen Applaus, zu dem auch der Autor auf die Bühne kam.

(RP)
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