Debatte um Abitur in NRW G8 oder G9 — was denn nun?

Düsseldorf · Wer auch immer die Landtagswahl gewinnt: Den Gymnasien stehen 2017 große Veränderungen bevor. Das achtjährige Modell in seiner jetzigen Form hat keine Zukunft mehr. Unser Autor hat die Positionen derjenigen Parteien zusammengetragen und bewertet, die gute Chancen haben, im nächsten Landtag vertreten zu sein.

 Wie soll künftig an den NRW-Gymnasien unterrichtet werden?

Wie soll künftig an den NRW-Gymnasien unterrichtet werden?

Foto: dpa, awe mov lof

Wer entscheidet? Die Landespolitik.

Das Konzept Schon 2010 (damals war sie erstmals in den Landtag gekommen) hatte die Linke eine Abkehr von G 8 gefordert. Jetzt unterstützt die Partei die Elterninitiativen und fordert die Rückkehr zu G 9. Das soll an allen Schulen gelten; leistungsstarke Schüler sollen allerdings wie bisher individuell Klassen überspringen können. Die Linke geht aber noch weiter: Das dürfe nur der Einstieg in die Abschaffung des gegliederten Schulsystems sein. Bis Klasse 10 sollen alle Kinder gemeinsam lernen. Die Oberstufe soll grundsätzlich dreijährig sein; Schüler sollen sie aber auch in zwei oder in vier Jahren durchlaufen können.

Wann soll umgestellt werden? Die Linke will die "sofortige Rücknahme" von G 8, hält aber eine Umstellung erst ab 2018 für realistisch.

Stärken Über die Verkürzung in der Oberstufe gibt es zumindest noch eine Möglichkeit, in acht Jahren zum Abitur zu kommen, ebenso über die Springer-Möglichkeit.

Debatte um Abitur in NRW: G-was denn nun?
Foto: zörner

Schwächen Ganztag für alle, eine Schule für alle, G 9 für alle: Von Differenzierung hält die Linke trotz der G 8-Option in der Oberstufe nicht viel — die Bedürfnisse der Eltern und Schüler und die Realität an den Schulen sind viel komplexer. Und Schulen als "Lernfabriken" zu bezeichnen, "in denen mit Leistungsdruck gearbeitet wird" (so Spitzenkandidatin Özlem Demirel), ist schierer Populismus.

Fazit Eine einfache Lösung. Leider sind einfache Lösungen selten gut. Auch diese nicht.

Wer entscheidet? Der einzelne Schüler beziehungsweise seine Eltern.

Das Konzept Ursprünglich wollten die Grünen die Systemdebatte "G 8 oder G 9?" komplett überwinden. Als sich aber das Konzept "Jedem Kind seine Lernzeit" zum kommunikativen Desaster entwickelte, besserte man nach. Jetzt soll es nach Klasse 6 zwei Möglichkeiten geben: eine Aufspaltung in einen G 8- und einen G 9-Zweig — oder die teilweise Auflösung des Klassenverbands mit individuellen Unterrichtszeiten je nach Fach. Wer gut ist, kann so auch in fünf Jahren die Sekundarstufe I durchlaufen oder sie in einzelnen Fächern nach fünf Jahren beenden. Dann wäre in Klasse 10 mehr Zeit zur Vertiefung. An kleinen Schulen soll nur die zweite Möglichkeit zur Verfügung stehen.

Wann soll umgestellt werden? Ab 2018, individuelle Lernzeit ab 2019

Stärken An allen Schulen gibt es eine G 8- und eine G 9-Option. Die Grünen haben sich Gedanken gemacht, wie es möglich ist, den Stoff besser zu vertiefen. Und es soll eine "Fortbildungsoffensive" geben.

Schwächen Wie bei der SPD gilt: Wer an einer Schule beide Systeme anbieten will, braucht mehr Geld und Personal. Vor allem aber dürfte das Konzept der "individuellen Lernzeiten" viele Beteiligte noch überfordern. Das an kleinen Gymnasien verpflichtend einzuführen, weil zu wenig Schüler und Lehrer für eine zweigleisige Lösung da sind, verspricht Krach statt Schulfrieden.

Fazit Zu anspruchsvoll und zu wenig pragmatisch — das würde eine unfreiwillige Großreform an vielen Schulen bedeuten.

Wer entscheidet? Der einzelne Schüler beziehungsweise seine Eltern.

Das Konzept Die SPD hat das detaillierteste Modell vorgelegt: "G 8 flexi". Nach Klasse 9 sollen die Schüler wählen: Klasse 10 plus zwei Schuljahre bis zum Abitur (Qualifikationsphase), also insgesamt G 8? Oder zwischen Klasse 10 und Qualifikationsphase ein "Orientierungsjahr", etwa für Auslandsaufenthalte oder als Einführungsphase in die Oberstufe, also insgesamt G 9? Schulen müssten in hohen Klassen zweigleisig fahren: mit einem G 8- und einem G 9-Zug. Als möglich gilt auch ein Modell, bei dem schon nach Klasse 6 gewählt wird, so dass im G 9-Zweig die Stundenbelastung über mehr Jahre verteilt werden kann.

Wann soll umgestellt werden? Eher 2019 als 2018.

Stärken Das "Orientierungsjahr" könnte zur Vertiefung und Wiederholung des Lernstoffs genutzt werden — eine Chance für viele. Vor allem aber hat die SPD intensiv gerechnet und deshalb ziemlich klare Vorstellungen davon, wie hoch die Belastung wäre.

Schwächen Wer sich nach Klasse 9 für G 8 entscheidet, hat ein echtes Stress-Jahr vor sich, um auf die nötige Stundenzahl bis zum Abi zu kommen. Auch die Belastung in den Klassen 11 und 12 steigt. Ob das Ganze auch an kleinen Schulen funktioniert oder wenn sich von einem Jahrgang zum nächsten das Wahlverhalten deutlich ändert, ist noch nicht klar. Und: Zweigleisige Systeme brauchen mehr Raum und mehr Lehrer, kosten also mehr Geld.

Fazit Teuer, anspruchsvoll, kompliziert, aber realistisch.

Wer entscheidet? Die Schulen — aber nur diejenigen, die sich entscheiden wollen.

Das Konzept Ähnlich wie die FDP tritt die CDU für eine Wahlfreiheit der einzelnen Schulen ein, allerdings nur einmal — das soll dann dauerhaft gelten. An einer Schule gibt es dann entweder G 8 oder G 9, keine Parallel-Lösung. Von der FDP will man sich aber auch absetzen: Schulen, an denen G 8 funktioniert, sollen gar nicht über die Länge ihrer Schulzeit beraten müssen. Allen anderen Schulen soll ein "echtes G 9" angeboten werden; Gymnasien sollen selbst entscheiden, ob sie Ganztagsunterricht anbieten. Am jetzigen G 8-System soll es keine Veränderungen mehr geben.

Wann soll umgestellt werden? Ab 2017, Schulen können sich aber auch später noch entscheiden.

Stärken Die CDU verbindet die Schulzeit-Frage mit der Debatte über die Qualität gymnasialer Bildung. Sie fordert daher unter anderem eine Überarbeitung der Lehrpläne und mehr Möglichkeiten zur Vertiefung für die Schüler.

Schwächen Die Frage "G 8 oder G 9" dürfte die Gymnasien überfordern — aus den Schulen kommt vor allem der Ruf nach klaren politischen Entscheidungen. Es passt zudem nicht zusammen, eine sorgfältige Überarbeitung der Lerninhalte zu fordern und gleichzeitig einen Umstieg schon 2017 zu versprechen. Und schließlich: Schulen werden sich der Debatte kaum entziehen können, bloß weil sie nicht gezwungen werden, das Problem zu beraten.

Fazit Unrealistisch und widersprüchlich — die CDU kommt den G 9-Initiativen zu weit entgegen.

Wer entscheidet? Die Schulen.

Das Konzept Im Sommer sprachen sich die FDP-Mitglieder in NRW für Wahlfreiheit der Schulen aus. Das steht auch im Konzept. Nach einem Zyklus der Sekundarstufe I, also fünf oder sechs Jahren, sollen sich die Schulen neu entscheiden können. Die Partei ergänzte ihr Konzept aber noch um ein "Y-Modell": Nach Klasse 6 kann in einen G 8- und einen G 9-Zug getrennt werden. Grundsätzlich soll das erst ab vier Klassen möglich sein, von denen je zwei zu einem Bildungsgang gehören. Wenn aber nur ein Viertel für G 8 votiert, sollen auch diese Schüler G 8 bekommen, und zwar über Kooperationen mit anderen Gymnasien.

Wann soll umgestellt werden? Ab 2018.

Stärken Das Konzept passt zum liberalen Weltbild: Der Einzelne soll möglichst viel entscheiden. Dass die FDP die Wahlfreiheit durch ein Parallel-Modell ergänzt hat, war sinnvoll und notwendig.

Schwächen Die FDP erlebte sozusagen die Ungnade der frühen Geburt: Nachdem sie mit ihrem Wahlmodell an den Start gegangen war, sprach sich prompt der runde Tisch aus Betroffenen und Experten gegen eine solche Entscheidungsfreiheit vor Ort aus. Zu Recht: Der Großkonflikt müsste dann an jeder Schule noch (mindestens) einmal ausgetragen werden. Wie bei der SPD steht bei der FDP die Umsetzung an kleinen Schulen noch auf wackligen Füßen.

Fazit Wahlfreiheit ist sinnvoll, aber für jede einzelne Schule dann doch zu liberal. Das "Y-Modell" allerdings ist ein vielversprechender Vorstoß.

Wer entscheidet? Die Landespolitik.

Das Konzept Die AfD beklagt Stoffverdichtung und "Bildungsabbau" durch das achtjährige Gymnasium. Nicht nur die Schüler, sondern auch die Lehrer hätten für ihre nachmittägliche Arbeit zu wenig Zeit. Die Partei fordert daher die "neunjährige Schulzeit am Gymnasium für alle". G 9 habe sich "über ein Jahrhundert bewährt" und müsse wieder zur Regellösung werden. Zugleich soll G8 auf freiwilliger Basis möglich sein, allerdings nur für einzelne Schüler — ähnlich also wie die geltende Möglichkeit, Klassen zu überspringen. Der AfD schwebt hier ein Wechsel vom ersten Halbjahr der Klasse 10 ins zweite Halbjahr der Klasse 11 vor.

Wann soll umgestellt werden? Sofort — also ab 2017; möglicherweise auch schon für höhere Stufen.

Stärken Zumindest ist noch eine G 8-Option vorgesehen. Richtig ist die Feststellung, dass es am Gymnasium eine Debatte um die Bildungsqualität geben muss.

Schwächen Dass Populismus von rechts und links manchmal schwer auseinanderzuhalten ist — AfD und Linke beweisen es: Ihre G 9-Konzepte ähneln sich; die AfD schränkt allerdings die Möglichkeit der individuellen Verkürzung noch weiter ein. Der Verweis auf die Tradition, um den Schwenk zurück zu begründen, überzeugt nicht — auch achtjährige Systeme funktionieren seit Langem gut, siehe Sachsen.

Fazit Das unflexible AfD-Konzept ignoriert, dass G 8 vielerorts gut funktioniert. Und eine Rückkehr schon 2017 ist vollends unrealistisch.

(fvo)
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