Essen Inklusion fällt Gymnasien schwer

Essen · An einem Essener Gymnasium lernen Regelschüler gemeinsam mit förderbedürftigen Kindern. Letztere haben ab kommendem Schuljahr einen Rechtsanspruch auf freie Schulwahl. Der Philologenverband fordert ein klares Konzept.

 Inklusion bedeutet, dass Regelschüler gemeinsam mit förderbedürftigen Kindern lernen.

Inklusion bedeutet, dass Regelschüler gemeinsam mit förderbedürftigen Kindern lernen.

Foto: dpa, hka jhe

Isabel und Gerrit würden mit keiner anderen Klasse ihres Jahrgangs tauschen. In den Augen der 13-Jährigen hat ihre Klasse Vorteile, von denen andere nur träumen können. "In unserer Integrationsklasse wird es nie langweilig", sagt Isabel. "Die Förderkinder könnten ruhig noch mehr Unterricht mit uns haben", pflichtet ihr Gerrit bei. "Und", ergänzt Sinem (14), "dadurch ist unsere Klasse kleiner, das finde ich gut." Am Essener Alfred-Krupp-Gymnasium lernen seit 2011 Regelschüler gemeinsam mit lernbehinderten Kindern und solchen, die in ihrer sozialen Entwicklung gestört sind. Jeweils eine Klasse der dreizügigen Schule ist eine Integrationsklasse. Ab kommendem Schuljahr haben Eltern förderbedürftiger Kinder einen Rechtsanspruch auf freie Schulwahl. Die Essener Schule zählt zu den wenigen Gymnasien, die sich vor der Pflicht für eine Öffnung entschieden haben.

Was Gerrit, Isabel und Sinem nicht mitbekommen: Unproblematisch läuft es in Essen trotz mehrjähriger Erfahrung nicht. "Inklusion ist kein Selbstläufer", sagt Schulleiter Berthold Urch. "Es gibt kein Konzept, keine Schulmaterialien, die Räume sind nicht ausreichend ausgestattet, und für viele andere Probleme gibt es noch keine Lösung." Derzeit gibt es in den Jahrgängen fünf bis acht jeweils eine Integrationsklasse. Von 20 Schülern - die anderen Klassen haben 28 - sind jeweils fünf förderbedürftig. "Wir haben keine körperlich behinderten Kinder. Die sind auch nicht das Thema, weil sie vom Intellekt her mithalten können", so Urch.

Der Philologenverband NRW weiß um die Problematik, mit der die Gymnasien, die Inklusionsunterricht anbieten, zu kämpfen haben. "Die Gesamt- und Realschulen können ein breiteres Fächerspektrum anbieten. An Gymnasien hingegen werden die Schüler in der Regel auf das Abitur vorbereitet. Um auch förderbedürftigen Kindern gerecht zu werden, braucht es eine Doppelbesetzung und ein ausgereiftes Konzept", sagt Peter Silbernagel vom Philologenverband NRW. Doch ein solches fehlt. "Das Schulministerium hat keines. Wir müssen Probleme selbst kreativ lösen", sagt Urch. So bekommen die Förderkinder eigens auf sie zugeschnittene Aufgaben. Jeder hat einen Lernpartner. Den Unterricht gestaltet neben einem Lehrer auch ein Sonderpädagoge. An der Essener Schule gibt es davon drei. "Für einige Fächer haben die Integrationskinder einen eigenen Raum", erklärt Pädagogin Ele Distelhorst. Denn sie lernen keine zweite Fremdsprache, haben statt dessen Arbeits- oder Hauswirtschaftslehre.

Gymnasien von der Inklusion ausschließen, das möchte Peter Silbernagel nicht. "Keine Schulform kann sich bei der Inklusion ausklinken. Ich will das Problem auch nicht von den Gymnasien auf die Gesamtschulen verlagern." Ideal sei die Inklusion in einem System ohne unterschiedliche Schulformen - "doch bei uns ist es systemstrukturell nicht einfach. Erst müssen die Rahmenbedingungen stimmen - und das ist eine Forderung, die in Richtung Politik geht", so Silbernagel. Berthold Urch ist skeptisch, dass die Rahmenbedingungen schnell besser werden. Dafür gibt es zu viele Baustellen - etwa soziale Differenzen. So können die Förderschüler nicht sitzenbleiben. "Wenn ein Regelschüler aufgrund schlechter Noten sitzenbleibt, das förderbedürftige Kind aber nicht, dann muss man das dem Regelschüler erst einmal plausibel machen", erklärt Urch. Andere Baustellen sind die fehlenden Zusatzqualifikationen der Gymnasiallehrer, die in der Regel nicht im Unterrichten von Arbeits- oder Hauswirtschaftslehre geschult sind. Zudem sind die Sonderpädagogen nur von anderen Schulen abgeordnet. Jährlich wird neu entschieden, ob sie bleiben können.

Falsch sei es, die Förderschulen wegen des Rechtsanspruchs auf freie Schulwahl generell in Frage zu stellen, sagt Silbernagel. Denn vor allem auf die Pädagogen dieser Schulform sei man in Zukunft angewiesen. Dazu müsse man weiter in deren Ausbildung investieren. "Man kann aber auch die Eltern verstehen, die lange für das Recht auf freie Schulwahl gekämpft haben", sagt Silbernagel. "Ich akzeptiere aber nicht, dass die Politik die Schulen alleine lässt, die Lehrer nicht vorbereitet und die Inklusion nur zufällig funktioniert." Pädagogin Distelhorst versucht es positiv zu sehen: "Momentan haben wir noch Handlungsspielraum. Das ist besser als ein wildes Konzept fernab der Praxis - denn die haben wir nicht."

(RP)
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