Analyse Inklusion - wo es noch hakt

Düsseldorf · Ab 1. August haben Eltern behinderter Erst- und Fünftklässler für ihr Kind einen Anspruch auf einen Platz an einer allgemeinbildenden Schule. Das ist schon in acht Wochen. Trotzdem gibt es noch viele Unklarheiten.

Analyse: Inklusion - wo es noch hakt
Foto: Radowski

Jetzt wird es wirklich ernst. Vier Wochen Schule noch, dann sechs Wochen Ferien, und danach ist alles anders - auf dem Papier. Ab 1. August, zum Start des neuen Schuljahrs, gilt in NRW ein Rechtsanspruch für Eltern behinderter Erst- und Fünftklässler auf einen Platz an einer allgemeinbildenden Schule. Die Eltern können dann selbst entscheiden, ob ihr Kind eine Förder- oder eine allgemeine Schule (etwa Haupt-, Real- und Gesamtschule oder Gymnasium) besuchen soll.

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Diesem ersten Schritt soll nach dem Willen der rot-grünen Landesregierung eine riesige Umwälzung folgen: In etwa zehn Jahren soll der größte Teil der rund 130 000 Jungen und Mädchen "mit sonderpädagogischem Förderbedarf", wie es im Amtsdeutsch heißt, gemeinsam mit nicht behinderten Schülern lernen. Bisher ist es erst knapp ein Drittel. Inklusion heißt der Jahrhundertprozess.

Doch es gibt noch viele Unklarheiten, die vor allem die Ausgestaltung und die konkreten Folgen des gemeinsamen Lernens betreffen. Vier Beispiele.

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Wer zahlt wie viel? Das Land wollte sich zunächst davor drücken, zusätzliches Geld für die schulische Inklusion bereitzustellen, obwohl es nach dem in der Verfassung verankerten Konnexitätsprinzip verpflichtet ist, den Kommunen die Finanzierung neuer Aufgaben zu ermöglichen. Es handle sich doch gar nicht um eine neue Aufgabe, versuchte sich NRW-Schulministerin Sylvia Löhrmann (Grüne) herauszureden. Schließlich sei die schulische Inklusion mancherorts schon weit gediehen. Erst, als die kommunalen Spitzenverbände - insbesondere der Städte- und Gemeindebund sowie der Landkreistag - mit Verfassungsklage drohten, lenkte die rot-grüne Landesregierung ein. Fünf Jahre lang bekommen die Kommunen nun jeweils 35 Millionen Euro pro Jahr; insgesamt 175 Millionen Euro. Sollte diese Summe nicht ausreichen (was absehbar ist), will das Land weitere Mittel geben. Die "Spitzabrechnung" erfolgt jährlich. Einzelheiten soll ein Gesetz regeln, zu dem demnächst eine Expertenanhörung erfolgen wird.

Wer macht was? Je mehr behinderte Kinder an allgemeinen Schulen lernen, umso mehr Sonderpädagogen wechseln von Förder- an Regelschulen. Was sie dort erwarte, sei oft noch unklar, kritisiert der Hauptpersonalrat Förderschulen: "Viele Kollegen fühlen sich mit der Organisation ihrer Arbeit und der Strukturierung ihres Einsatzes alleingelassen", hieß es unlängst in einem Rundschreiben. Mehrfach habe man vom Ministerium eine Aufgaben- und Arbeitsplatzbeschreibung angefordert - die aber, so ist zu hören, stehe weiter aus. "Das ist wie beim Blind Date", sagt ein Insider. Konkret geht es um grundlegende Fragen wie die Diagnose von Förderbedarf, den Unterricht selbst oder die Zahl möglicher Einsatzorte.

Konkrete Regeln für einzelne Schulen aber widersprechen Löhrmanns Ansatz. "Die Ausgangslage ist so vielfältig wie die Schülerschaft mit Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung", sagt die Schulministerin: "Das Land konzentriert sich darauf, Leitplanken vorzugeben und keine engen Vorgaben, die wie ein starres Korsett wirken würden." Es gebe aber Leitlinien, die Sonderpädagogen ermöglichten, Leitungsämter an allgemeinen Schulen zu übernehmen.

Wo sind die Lehrer? Der Bedarf an Sonderpädagogen steigt - schneller als das Angebot. Bis 2018 sollen deshalb 2300 zusätzliche Studienplätze entstehen. Das hilft aber kurzfristig nicht; deswegen können sich Lehrer an allgemeinen Schulen in 18 Monaten zu Sonderpädagogen fortbilden lassen. "Das Ergebnis kann bestenfalls ein ,Förderschullehrer light' sein", kritisiert Brigitte Balbach vom Verband Lehrer NRW, der vor allem die Realschulen vertritt: "Wir fordern eine umfassende Fortbildung mit wissenschaftlicher Ausbildung für alle Lehrkräfte an Regelschulen."

Wer arbeitet wo? Das Land will sicherstellen, dass zunächst in jeder Kommune ein Schultyp inklusiven Unterricht anbietet. Welche Schule das ist, entscheidet die Schulaufsicht (für Realschulen, Gesamtschulen und Gymnasien die Bezirksregierung) mit dem Träger (meist der Kommune). Das Land hat einen großen Topf von 9406 Stellen gebildet, aus dem Schulen Lehrer für die Betreuung lern-, sprach- und verhaltensgestörter Kinder zugewiesen werden. Sie gehe davon aus, dass jede Schule ausreichend versorgt werde, sagt Löhrmann: "Brüche sollen im Umbauprozess vermieden werden."

Seine Zweifel daran hat Peter Silbernagel, Landeschef des Philologenverbands: "Das Budget ist für zehn Jahre festgeschrieben - egal, wie viele Kinder mit Förderbedarf es gibt", sagt er. Zudem würden viele Schulen schlechtergestellt, weil sich der Rechenschlüssel ändere: "Eine Schule, die bisher für fünf oder sechs behinderte Schüler eine Sonderpädagogen-Stelle bekam, kann damit nicht mehr rechnen. Sie braucht jetzt zehn oder mehr Schüler." Das werde vor allem die Gesamtschulen treffen, sagt Silbernagel, weil gemeinsamer Unterricht dort besonders nachgefragt werde. Ein Personalvertreter fügt hinzu: "Ein einziger Sonderpädagoge an einer Schule kann ohnehin nicht einzelne Schüler fördern, sondern bestenfalls Wissen an Kollegen weitergeben."

Eine durchgehende Besetzung inklusiver Klassen mit zwei Lehrern hat das Ministerium schon ausgeschlossen - die sei aber auch nicht erforderlich. Zudem gelte Bestandsschutz für Klassen, die bereits mit Behinderten arbeiten.

Die bangen Fragen in Sachen Inklusion fallen vor allem in zwei Bereiche: Qualität und Steuerung. Das erinnert an die Probleme bei der Ausgestaltung des achtjährigen Gymnasiums (G 8). Auch dort mangelt es an verbindlichen Vorgaben, so dass die Schulzeitverkürzung nur an den Gymnasien leidlich funktioniert, die ihre Arbeit komplett umgestellt haben. Wie viel Frustpotenzial eine verkorkste Großreform birgt, erfährt Löhrmann in der neu aufgeflammten Debatte um das "Turbo-Abitur". Gegen die Inklusion dürfte das G 8 allerdings fast ein Spaziergang sein.

(RP)
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