Schüler aus NRW besuchen mit Ministerin Kriegsschauplatz Ypern — wo die Vergangenheit lebendig ist

Ypern · In Flandern ist der Erste Weltkrieg bis heute gegenwärtig. NRW-Schulministerin Sylvia Löhrmann (Grüne) hat Gymnasiasten beim Besuch der Erinnerungsstätten begleitet. Das Grauen von Ypern macht nachdenklich.

 Eine Tafel auf dem deutschen Soldatenfriedhof Langemark (Belgien) listet die Namen gefallener deutscher Soldaten auf.

Eine Tafel auf dem deutschen Soldatenfriedhof Langemark (Belgien) listet die Namen gefallener deutscher Soldaten auf.

Foto: dpa/Martina Herzog

Dunkle Platten aus Granit sind in geraden Linien in den Boden eingelassen. Aufgereiht zum ewigen Appell. Grabsteine für 25.644 Gefallene. Der Herbst hat den Friedhof mit einem braunen Teppich überzogen. Mächtige Eichen werfen gelbe Blätter auf die Gräber. Die Bäume wurden als Andenken an die Gefallenen gepflanzt. Ihr Leben endete in der Kriegshölle von Flandern — vor 100 Jahren. Heute besucht eine Schülergruppe aus NRW den deutschen Soldatenfriedhof Vladslo nahe der westbelgischen Stadt Ypern. 18 Oberstufenschüler aus Siegen, eingeschüchtert von der Wucht des Ortes. "Schrecklich", findet Antonia (15) diesen Ort des Grauens. "Und doch so wichtig, um Geschichte lebendig zu halten".

Ypern an der belgischen Nordseeküste war einer der blutigsten Kriegsschauplätze. Giftgas, Stellungskrieg, Granatenhagel — die Stadt ist zum Synonym für den Schrecken des Ersten Weltkriegs geworden. 610.000 Soldaten kamen in Flandern ums Leben, mehr als 130.000 aus Deutschland. Noch immer gelten 55.000 Menschen als vermisst. 1918 war die Stadt ein Trümmerhaufen. Winston Churchill, damals britischer Munitionsminister, wollte die Ruinen zum Mahnmal gegen den Krieg erklären. Doch die Yperer bauten ihre Stadt wieder auf, fast originalgetreu. Doch noch heute finden flämische Bauern beim Pflügen menschliche Überreste.

Soldatenfriedhöfe wie offene Wunden

In Deutschland ist die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg unter den Trümmern des Zweiten begraben. Blättert man in einem Schulbuch, finden sich nur wenige Seiten, die den blutigen Schlachten in Ypern gewidmet sind. Doch in Siegen hat die Fahrt nach Belgien Tradition — seit 1985 findet sie jährlich statt. Seit Monaten beschäftigen sich die Schüler in verschiedenen Fächern mit dem Ersten Weltkrieg. Das Grauen von Ypern soll niemanden unvorbereitet treffen.

Die Gruppe fährt durch Dörfer, in denen Soldatenfriedhöfe wie offene Wunden zwischen den Häusern klaffen. Fast überall, wo heute ein Friedhof ist, stand früher ein Lazarett. Überall beklagen Inschriften in vielen Sprachen das Ungeheuerliche, ruhen Tausende gefallene Soldaten unter der Erde. Einer von ihnen ist Peter Kollwitz, Sohn der berühmten Künstlerin Käthe Kollwitz. Sie hat am Grab ihres Sohnes, der 1914 im Alter von 18 Jahren ums Leben kam, die ergreifende Statuengruppe der "Trauernden Eltern" aufstellen lassen. "Das Leid der Eltern muss unvorstellbar gewesen sein", flüstert ein Schüler. Gut, dass seine Generation es heute besser habe. Ypern macht nachdenklich.

In der Siegener Gruppe steht eine Frau und hört zu: Sylvia Löhrmann. Die grüne NRW-Schulministerin ist zwei Tage lang in Belgien, reist mit den Schülern auch zum deutschen Friedhof von Langemark, nur wenige Kilometer von Ypern entfernt. "Eine lebendige Demokratie braucht die reflektierten Erfahrungen der Vergangenheit, um die Gegenwart zu gestalten und sich für die Zukunft zu öffnen. Darum ist historisch-politische Bildung in Form des Erinnerns so wichtig", sagt Löhrmann.

Gedenken jeden Tag um 20 Uhr

Am Abend legt die 57-Jährige gemeinsam mit den Schülern einen Kranz am Menen-Tor, dem mächtigen Ehrenmal der Stadt, nieder. Das Denkmal in Form eines römischen Triumphbogens wirkt wie eine Zeitschleuse. In seinen Marmor sind 54.896 Namen gemeißelt. So viele, dass die Schrift zum Ornament verschwimmt.

Die Zeremonie zum Gedenken an die Gefallenen findet seit 1928 jeden Tag um 20 Uhr statt. Kommandorufe, Dudelsack-Klänge, Gefallenslaut. Ein Dreiklang für alle Soldaten, deren nationale Zugehörigkeit spätestens mit ihrem Tod gleichgültig geworden ist.

Der Schrecken von damals ist zurück — und erfasst auch die 18 Gymnasiasten aus Siegen. "In Ypern", sagt einer von ihnen, "wird Vergangenheit lebendig."

(jam)
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