Köln Samstagmorgen, Wochenmarkt, 9.05 Uhr

Köln · Der Angriff auf Henriette Reker hat nicht nur die Stadt Köln, sondern das ganze Land erschüttert. Mit einem 40 Zentimeter langen Messer wurde sie von Frank S. schwer verletzt, ist aber nach einer Notoperation außer Lebensgefahr. Wann Reker ihr neues Amt antreten kann, ist unklar.

Köln: So reagieren die Parteien auf das Wahlergebnis
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Eigentlich sollte es mit Rücksicht auf Henriette Reker, die gestern Abend nach übereinstimmender Auskunft mehrerer Vertrauter noch immer unter Narkose liegt, gar keine Feier werden. Trotzdem ist die Stimmung alles andere als gedrückt. Weil CDU, Grüne und FDP die parteilose Henriette Reker gemeinsam unterstützt haben, feiern sie ihre Wahl zur Kölner Oberbürgermeisterin auch gemeinsam - im "Consilium", einem gehobenen mediterranen Restaurant innerhalb des Kölner Rathaus-Komplexes. Anhänger aller drei Parteien stehen dabei zwanglos und bunt gemischt um weiß gedeckte Stehtische herum. Fast normal mutet das an, aber eben auch nur fast.

Der Chef des Kölner Flughafens, Michael Garvens, auf Einladung der CDU bei der Party, erzählt in kleiner Runde von einer eigenen Begegnung mit einem Verwirrten. "Der hat vor ein paar Jahren mein Büro gestürmt und mich bedroht. Danach sieht man die Welt anders", sagt Garvens. Die Kölner Regierungspräsidentin Anne Lütkes (Grüne) vermutet, das Attentat werde mehr Schutzbedürfnis auch bei Lokalpolitikern auslösen. Sie habe jedes Verständnis, wenn Reker nun Personenschutz verlange.

Einen Tag zuvor, um kurz nach neun Uhr am Samstagmorgen, ist die Welt für die OB-Kandidatin aus den Fugen geraten. Wie immer sind viele Menschen gerade auf dem Weg zum Markt im Stadtteil Braunsfeld an der Aachener Straße, um ihre Wochenendeinkäufe zu erledigen. Es ist der Morgen vor der großen Oberbürgermeister-Wahl. Es gibt kaum ein anderes Gesprächsthema. Die Sonne scheint. Die parteilose OB-Kandidatin und gleichzeitige Sozialdezernentin der Stadt Köln, Henriette Reker, ist mit ihrem Wahlkampfteam auf den Wochenmarkt gekommen, um auf der Zielgeraden noch einmal die Kölner davon zu überzeugen, ihr Kreuzchen hinter ihrem Namen zu machen. Am Eingang zum Markt haben Grüne und CDU ihre Stände aufgebaut, sie unterstützen Reker.

Die 58-jährige hat ihren Wagen hinterm Markt abgestellt. Sie ist gut gelaunt, als sie aus dem Auto steigt. Sie lächelt, winkt, schüttelt Hände. Am Stand der Christdemokraten hört sie sich die Sorgen der Bürger an. Plötzlich nähert sich ihr ein Mann. Er hält zwei Messer in der Hand, ein großes mit einer 40 Zentimeter langen Klinge und ein kleines Klappmesser, ein sogenanntes Butterfly. Zu spät wird die Gefahr erkannt. Der Mann geht auf Reker los, sticht ihr mit dem großen Messer in den Hals, verletzt sie lebensgefährlich. Dabei schreit er sinngemäß: "Ich will die Gesellschaft von solchen Politikern befreien. Ich tue das für euch alle." Ein zufällig anwesender Beamter der Bundespolizei, der dort ist, greift geistesgegenwärtig ein und überwältigt den Angreifer, der keinen Widerstand leistet. Bundesinnenminister Thomas de Maizière wird sich später für "sein beherztes Eingreifen" bei dem Polizisten bedanken.

Vier weitere Personen werden bei dem Attentat zum Teil schwer verletzt, unter ihnen Katja Hoyer (54), sozialpolitische Sprecherin der FDP-Fraktion im Kölner Stadtrat. Ihr sticht der Täter in die Wange. Dennoch bleibt sie bei Bewusstsein. Sie kniet sich über Reker, spricht mit ihr, beruhigt sie - bis der Krankenwagen um 9.12 Uhr eintrifft.

In den Einsatzleitstellen der Polizei und Feuerwehr ahnt man zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass es sich bei dem Opfer um Henriette Reker handelt. "Um 9.05 Uhr ging bei uns ein Notruf einer Frau ein, die sagte, dass am Markt in Braunsfeld eine Frau verletzt worden ist und dass ein Mann mit einem Messer das wohl gewesen wäre", wird der Chef der Feuerwehr Köln wenige Stunden nach der Bluttat auf der Pressekonferenz im Kölner Polizeipräsidium erklären. Man habe zunächst mit einem Einsatz gerechnet, wie er in Köln "alle zehn Minuten" vorkomme, und nach Vorschrift sofort einen Rettungswagen losgeschickt.

Sieben Minuten nach Eingang des Notrufs trifft der erste Notarzt am Tatort ein, ihm werden vier weitere folgen, darunter auch ein Arzt, der mit dem Rettungshubschrauber "Christoph Rheinland" eingeflogen wird. Reker wird in die drei Kilometer entfernte Uniklinik gebracht. Die anderen Verletzten werden auf andere Krankenhäuser verteilt. Die Polizei beginnt mit der Spurensicherung, sperrt Straßen weiträumig ab, der Markt wird allerdings nicht geschlossen. Die Begründung der Polizei lautet: Die Bluttat hat sich nicht auf dem Gelände des Marktes zugetragen, sondern auf dem Bürgersteig vor dem Markt. Unverständnis und Kopfschütteln bei den Augenzeugen.

Der Angreifer, Frank S., ein 44-jähriger arbeitsloser Maler und Lackierer, wird zur Vernehmung aufs Polizeipräsidium nach Köln-Kalk gebracht. Ermittler durchsuchen seine Wohnung im linksrheinischen Stadtteil Nippes. Computer und Akten werden sichergestellt und aufs Revier gebracht.

Um 14 Uhr kommen Mitglieder aller Parteien und rund 200 Bürger auf einer spontanen Solidaritätskundgebung in der Kölner Schildergasse zusammen. Der Straßenwahlkampf wird abgesagt. "Ich habe heute mit der Bundeskanzlerin telefoniert. Sie ist tief betroffen", sagt CDU-Chef Armin Laschet. "Die ganze Bundesrepublik ist schockiert", sagt er weiter. Am Abend bildet er mit vielen anderen prominenten Politikern wie Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (SPD) und Bürgern eine Menschenkette am Rathaus.

Zu dieser Uhrzeit ist noch nicht klar, ob Reker den Angriff überleben wird. Die Notoperation ist noch nicht beendet. Eine ganze Stadt scheint den Atem anzuhalten. Im Dom werden Kerzen angezündet. Aus dem Universitätsklinikum sickern nur spärlich Informationen über ihren Gesundheitszustand nach draußen. Erst gegen 15 Uhr kommt die erlösende Nachricht: Henriette Reker hat den feigen Angriff überlebt und liegt auf der Intensivstation. Etwa zur selben Uhrzeit treten im Kölner Polizeipräsidium die leitenden Oberstaatsanwälte, der Chefermittler und Polizeipräsident Wolfgang Albers vor die Presse. Sie erklären, dass der Täter geständig sei. Anschließend ergreift der noch amtierende Kölner Oberbürgermeister Jürgen Roters (SPD) das Wort: "Das war nicht nur ein Anschlag auf das Leben von Henriette Reker, sondern auch ein Anschlag auf die Demokratie."

(RP)
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