Grenzerfahrung 24. März 2016, 16.49 Uhr

Kaarst · Am Freitag vor einem Jahr überlebte RP-Redakteur Wolfram Goertz einen schweren Verkehrsunfall. Sein Wagen wurde auf der Autobahn 52 gerammt und überschlug sich. Für unseren Autor war es eine Grenzerfahrung.

 Kaum zu glauben, dass sich der Fahrer selbstständig aus dem Autowrack befreien konnte und nur leichte Verletzungen davon trug.

Kaum zu glauben, dass sich der Fahrer selbstständig aus dem Autowrack befreien konnte und nur leichte Verletzungen davon trug.

Foto: theo titz

An der Auffahrt Kaarst-Nord der Autobahn 52 in Fahrtrichtung Mönchengladbach bin ich in meinem Berufsleben bislang etwa 5000 Mal vorbeigefahren. Das belebte Kaarster Kreuz liegt hinter dir, der Verkehr beruhigt sich, die Pendler drängen, den Blick auf den Horizont gerichtet, nach Hause. Doch am 24. März 2016 um 16.49 Uhr war alles anders. An diesem Ort, an diesem Tag hat es mich und mein Auto in die Luft katapultiert, hundert Meter weitergeschleudert und krachend auf dem Dach liegen gelassen, quer zur Mittelleitplanke, gesäumt von Gras und Gestrüpp. Mein weißer Peugeot war ein Wrack, und fast wäre auch ich eines gewesen.

Mit voller Wucht!

Es war eine Grenzerfahrung. Heute vor einem Jahr verwechselte ein Autofahrer aus Krefeld den Beschleunigungsstreifen mit der rechten Richtungsfahrbahn. Mit überhöhter Geschwindigkeit schoss er die Auffahrt hoch, bemerkte sein scharfes Tempo zu spät, riss seinen Ford Focus herum; der geriet ins Schleudern und traf meinen Wagen mit Wucht am vorderen rechten Kotflügel. Der Rest steht im Polizeibericht. Der Wagen demolierte noch ein anderes Fahrzeug, so dass drei blecherne Ruinen auf der Autobahn standen; sie musste nach dem Eintreffen der Kavallerie aus Rettungskräften für Stunden gesperrt bleiben. Oft habe ich, als sich Freunde die Bilder meines Wagens ansahen, die Worte gehört: "Dass du das überlebt hast!"

 RP-Redakteur Wolfram Goertz (55) pendelt täglich zwischen Mönchengladbach und Düsseldorf.

RP-Redakteur Wolfram Goertz (55) pendelt täglich zwischen Mönchengladbach und Düsseldorf.

Foto: Endermann

Ich erlitt Prellungen, Schürf- und Schnittwunden, der Schädel und alle Organe blieben heil - und jenseits der unfallchirurgischen Versorgung war der Vorfall für mich ein surreales Erlebnis. Er lief unfassbar schnell ab, wie eine groteske Überraschung, mein Gedächtnis konnte gar nicht auf die Aufnahmetaste drücken. Ohnedies war ich in dem Moment, in dem die Physik mit mir Roulette spielte, einfach nur perplex. Beim Salto mitten in der Luft war meine einzige Überlegung, dass mein kleiner weißer Peugeot nicht mehr der alte sein würde. Dass ich sterben könnte, lag in diesen Sekunden fern meiner Vorstellungskraft.

Die erste Sorge nach dem Krachen, Scheppern, Splittern, Bersten: Wie komme ich zwischen den geplatzten Airbags aus dem Gurt heraus, in dem ich von der Decke hing? Ich krabbelte mich frei, wand mich durch das Fahrerfenster, griff in Scherben und sah das Blut an der linken Hand. Mein erster Gedanke: Wer bestellt denn jetzt einen Abschleppwagen?

Und dann sah ich Christiane, meine Freundin, das war das Wichtigste. Sie war mit ihrem Auto 300 Meter hinter mir gewesen, wir wollten gemeinsam bei mir zu Hause ankommen, sie hatte mich die ganze Zeit in Sichtweite, bis vor der Auffahrt Kaarst-Nord eine Linkskurve kam. Da sah sie mich nicht mehr, bemerkte aber plötzlich viele bremsende Autos, deren Fahrer die Warnblinkanlagen einschalteten. Christiane ahnte Schreckliches, sie rief mich am Stauende von ihrem Handy an - wir haben beide Freisprechanlagen -, doch ich reagierte nicht. Auf dem Standstreifen fuhr sie am Stau vorbei, sah meinen Wagen und dachte diesen einen, diesen entsetzlichen, das Leben blitzhaft zerschneidenden Satz: "Wolfram ist tot!" Genau als sie neben meinem Wagen zum Stehen kam, richtete ich mich neben meinem Auto auf, blutend und bleich, sah sie, fiel ihr in die Arme und fragte: "Schatz, haste mal 'ne Kompresse?" Ja, so war es.

Großartige Samariter

Es lag eine seltsame Stille über diesem Ort, an dem sich Menschen und Blicke unvorhergesehen begegneten. Einige Autos zwängten sich noch durch die Trümmerlandschaft, die Fahrer schauten mich an, als sei ich Jesus und von den Toten auferstanden. Dabei war erst Gründonnerstag. Andere Autos blieben stehen, die Fahrer stiegen aus und fragten besorgt: "Kann ich helfen?" oder "Brauchen Sie eine Decke?" Großartige Samariter. Und ich sah den Fahrer des Ford Focus, der wie ein Häufchen Elend an der Leitplanke lehnte und am ganzen Körper zitterte. Ich begegnete ihm und empfand keinen Groll. Er blickte glasig durch mich hindurch.

In einem solchen Moment dreht das Leben an allen Stellschrauben. Es hätte vorbei sein können. Es war unfassbares Glück und vielleicht doch die Generalstabsarbeit einer Schwadron von Schutzengeln, die zu dieser Minute über der Auffahrt Kaarst-Nord kreisten und mir ihre Hilfe gewährten.

Die kommenden Tage waren Management, das sich fast von selbst erledigte. Die Polizei hatte alles aufgenommen, die Beweislage war klar. Die Klinik entließ mich am kommenden Vormittag. Es war Karfreitag, ich befand mich seelisch im Niemandsland. So vieles war jetzt zu planen, doch keiner zu sprechen. Vertragswerkstatt zu. Abschleppbüro zu. Rechtsanwalt noch nicht erreichbar.

In diesem Moment hatten wir die richtige Idee: Wir fahren noch einmal hin zum Ort des Unfalls. Ob ich ans Steuer wolle, fragte Christiane, vielleicht sei das jetzt gut. Einige Traumaforscher raten dazu: Wer sich dazu in der Lage fühle, solle nicht vermeiden, sondern konfrontieren. Wir fuhren in Mönchengladbach los, ich saß hinter dem Lenkrad wie ein Anfänger, schweißnass am Körper, gottlob war wenig Verkehr. Mit 90 km/h rollte ich über die A 52, fuhr bis zum Kaarster Kreuz und dort zwei Schleifen, bis ich in entgegengesetzter Richtung das Schild "Mönchengladbach" sah.

Und dann kam es, 500 Meter weiter, zur neuerlichen Begegnung mit dem Unglücksort: Hier war es passiert. Ich fuhr extrem langsam, kein Wagen hinter mir. Ich schaute vorsichtig umher, doch der Ort bewahrte nichts für mich auf, keine Spuren mehr, wie reingewaschen wirkte er - dabei erinnerte ich mich, dass einige meiner CDs, durchs Fenster geschleudert, im Gras an der Mittelleitplanke gelegen hatten.

Ein wandelnder Invalide

Christiane träumte nachts von dem Bild eines Autos, das auf dem Dach lag. Als wir es einige Tage später beim Abschleppunternehmen leerräumten, wurde mir schlecht. Alles noch voller Blut, Splitter, Scherben, aber keine CD fehlte. Die Männer hatten alles in den Wagen zurückgefegt, jetzt nickten sie mir aufmunternd zu. Wieder fiel dieser Satz: "Dass Sie das überlebt haben!" Keine Sekunde fühlte ich mich als Held, als unverwundbarer Ritter, der seinem Gefährt entstiegen ist. Mir tat alles weh, die Nähte zwickten, ich konnte mich nicht waschen wegen der Verbände, ich war ein wandelnder Invalide. Aber ich empfand tiefe Dankbarkeit. Andere Unfallopfer tragen bleibende Schäden davon, wenn sie einen solchen Crash überhaupt überleben. Kann sein, dass mich der Unfall demütig gemacht hat - und empfänglich dafür, wie kostbar und unwiederbringlich das Leben ist.

Der Anwalt war die Güte und Professionalität in einer Person. "Sie möchten das alles schnell hinter sich lassen", sagte Herr Krall, der Verkehrsrechtler, "und ich werde Ihnen alles abnehmen." Zuerst musste ich den Unfallwagen verhökern, auf irgendeiner Resterampe im Internet. Ein Ausschlachter zahlte 1040 Euro - für dieses Wrack, dessen Stabilität mir freilich das Leben gerettet hatte! Deshalb entschied ich, den gleichen Wagen wieder zu kaufen, nur in einer anderen Farbe.

Ich nahm Orange Power. Signalfarbe ist gut, sagte Christiane. Damit ich nie mehr übersehen werde, weder in Kaarst-Nord noch anderswo.

(w.g.)
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