Lernen fürs Leben Aachener Neuntklässler drei Wochen allein unterwegs

Hagen · Mehr als 80 Schüler einer Aachener Gesamtschule meistern zurzeit eine Herausforderung: Sie reisen in kleinen Gruppen – ohne Eltern oder Lehrer. Nur 150 Euro dürfen sie pro Person ausgeben. Begleitet werden die Jugendlichen von Studenten, die aber nur bei drohender Gefahr eingreifen.

Aachener Schüler allein auf Tour
4 Bilder

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Mehr als 80 Schüler einer Aachener Gesamtschule meistern zurzeit eine Herausforderung: Sie reisen in kleinen Gruppen — ohne Eltern oder Lehrer. Nur 150 Euro dürfen sie pro Person ausgeben. Begleitet werden die Jugendlichen von Studenten, die aber nur bei drohender Gefahr eingreifen.

Rettungswesten, Schlafsäcke, Turnschuhe, eine Packung Spaghetti, Helme, Töpfe und ein Gaskocher liegen wild durcheinander zwischen zwei Zelten auf einem kleinen Campingplatz direkt an der Ruhr. Das Chaos ist nicht wirklich überraschend, denn hier haben Teenager das Kommando. Philipp (14), Felix (14), Erik (15) und Robin (14) haben es in zehn Tagen mit dem Kanu von Schmallenberg im Hochsauerlandkreis nach Hagen geschafft. Bis Mitte kommender Woche wollen sie Mülheim an der Ruhr erreichen.

Die vier Jungs gehören zu mehr als 80 Neuntklässlern im Alter von 14 und 15 Jahren der 4. Aachener Gesamtschule, die zurzeit unterwegs sind. Knapp drei Wochen reisen sie in Gruppen von drei bis sechs Schülern umher — und das ohne Lehrer oder Eltern. Begleitet werden sie von Studenten, die sich aber nur bei Gefahr einmischen sollen. Und für die gesamte Reise dürfen die Jugendlichen 150 Euro pro Person ausgeben.

"Sie mussten sich in Gruppen zusammenfinden und eine Tour planen"

Es ist eine Herausforderung — so lautet auch der Name des Projektes — und zwar für Schüler, Lehrer und Eltern. Zwar schickt die Evangelische Schule Berlin Zentrum — eine Privatschule — schon seit 2008 ihre Schüler ohne Lehrer auf Reisen. "Aber wir sind die erste öffentliche Schule, die so etwas macht", sagt Margret Lensges, die für das Projekt zuständige Lehrerin.

Das übergeordnete Ziel der Reise ist klar: "Die Jugendlichen sollen fürs Leben lernen", erklärt Lensges. Und zwar, indem sie Verantwortung übernehmen für sich und andere, indem sie auf eigenen Füßen stehen. Ein paar Regeln stehen fest — sie dürfen nicht an einem Ort bleiben und nicht mehr als 150 Euro ausgeben —, alles andere haben die Schüler selbst zu entscheiden.

"Sie mussten sich in Gruppen zusammenfinden und eine Tour planen, die sie dann Eltern und Lehrern vorgestellt haben", sagt Lensges. Ganz unterschiedliche Reisen kamen dabei heraus: Eine Gruppe will mit dem Fahrrad nach Münster und zurück, eine andere auf dem Eifelsteig bis nach Trier wandern, eine dritte ist auf Skateboards unterwegs. Übernachtet wird in der Regel auf Campingplätzen, in Gemeindehäusern, Kitas oder bei einem Bauern auf der Wiese — alles selbst organisiert.

Versorgen müssen sich die Schüler allein

"Wir hatten keinen Bock auf Radfahren oder Wandern", erzählen Philipp, Felix, Erik und Robin — sie haben sich deshalb für eine Tour mit zwei Kanus entschieden. Die vier Freunde haben Reiseführer gewälzt und sind so auf die Route auf Lenne und Ruhr gekommen. Die Boote bekamen sie von der schuleigenen Kanu AG. Die theoretische Vorbereitung war zwar gut, die Realität sah aber anders aus. "Das Wasser in der Lenne war zu niedrig", erzählt Robin. Anstatt zu paddeln, mussten sie durch den Fluss laufen und die Boote hinter sich herziehen.

Der Plan, 15 Kilometer am Tag zu schaffen, war damit hinfällig. Und auch die geplante Übernachtungsmöglichkeit erreichten sie nicht. Das Problem mussten sie selbst lösen. "Wir haben dann einen Bauern gefragt, ob wir auf seiner Wiese zelten können", sagt Robin. Der Landwirt war einverstanden und fuhr sie sogar zu einem Supermarkt. Denn auch versorgen müssen sie sich alleine, was für sie ganz neu ist. So gibt es meistens Einfaches wie Spaghetti mit Fertigsoße oder Chili aus der Dose, und Toast mit Nutella zum Frühstück.

"Immer wieder werden die Schüler mit Situationen konfrontiert, die sie nicht erwarten und auf die sie reagieren müssen", erklärt Lensges. Dabei würden sie lernen, was sonst gar nicht oder nur in Ansätzen in der Schule vermittelt wird. So wie der vernünftige Umgang mit Geld. Die Kanu-Truppe kommt gut klar. "Wir können jetzt noch 40 Euro am Tag ausgeben", sagt Felix, der sich als Kassenwart um die Finanzen kümmert. Diese dürften bis zum Ende locker reichen. "Auch von den anderen Gruppen wissen wir, dass sie gut mit dem Geld auskommen", erklärt Lensges. Denn viele Menschen seien sehr hilfsbereit und würden die Schüler zum Essen einladen oder ihnen Lebensmittel schenken.

Einmal am Tag müssen die Gruppen ein Bild schicken

Manche Lektion mussten die vier Jungs aber auf die harte Tour lernen: Sie glaubten den Angaben im Reiseführer nicht, dass eine Verbindung zwischen zwei Gewässerabschnitten "fast unmöglich" zu überqueren sei. Deshalb mussten sie über fünf Stunden lang die Boote und das Gepäck über Land schleppen. Und auch mit schneller Strömung hatten sie zu kämpfen. "Die Jungs haben das insgesamt super gemacht. Wir mussten nicht einmal eingreifen, weil es zu gefährlich wurde", erklärt Volker Enzensberger, der als Erwachsener dabei ist.

Die Jugendlichen reisen allein — sind aber trotzdem unter Aufsicht. Alle Begleiter, die entweder Soziale Arbeit oder ein Lehramt in Aachen studieren, haben eine Jugendleiter-Ausbildung und im Vorfeld einen Erste-Hilfe-Kursus belegt. Die Schule hat zudem einen 24-Stunden-Bereitschaftsdienst eingerichtet, und einmal am Tag, immer um 12 Uhr, müssen die Gruppen ein Bild von sich per Smartphone schicken.

Gut zwei Jahre hat die Vorbereitung für das Projekt "Herausforderung" gedauert, erzählt die Lehrerin. Und auch schon früh habe die Schule die Eltern an dem Projekt beteiligt, zum Beispiel in einer Arbeitsgruppe, um Sorgen zu zerstreuen. "Die Eltern haben so Vertrauen geschöpft", erzählt die Lehrerin. Mit Erfolg. Denn von 110 Schülern im Jahrgang nehmen mehr als 80 an dem außergewöhnlichen Projekt teil. Die anderen sind Schüler mit Förderbedarf, die eine für sie angepasste Herausforderung bekommen haben, und jene, denen die Eltern die Teilnahme verboten haben.

Nach zehn Tagen ist die Laune immer noch gut. "Das ist viel besser als Schule" sagt Felix. Aber so langsam vermissen alle ihre Familien. Und ihr Handy. Denn dessen Benutzung ist nur abends erlaubt — auch das ist eine Herausforderung.

(RP)
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