Langzeitstudie Ali ist nicht krimineller als Paul

Düsseldorf/Duisburg · Die erste Langzeitstudie über Jugendkriminalität kommt selbst für die Wissenschaftler zu einem überraschenden Ergebnis: Migranten sind nicht gewalttätiger als Deutsche. Auch andere Vorurteile werden widerlegt.

Langzeitstudie: Ali ist nicht krimineller als Paul
Foto: Grafik RP

Seit zwölf Jahren bekommt Johannes Meisters regelmäßig Post von den Universitäten Bielefeld und Münster. Kriminalitätsforscher von dort schicken ihm einmal pro Jahr einen Fragebogen zu. Es sind immer dieselben Sachen, die die Forscher von dem 25-jährigen Duisburger wissen wollen: Hast du schon einmal jemanden so fest geschlagen, dass dieser dadurch schwer verletzt wurde? Hast du jemanden mal mit einer Waffe bedroht oder verletzt? Und seine Antworten lauten seit zwölf Jahren: Nein. Nein. Nein.

Johannes Meisters ist einer von 3411 jungen Duisburgern, die seit 2002 freiwillig, aber anonym an der bundesweit ersten repräsentativen Langzeitstudie zur "Kriminalität in der modernen Stadt" teilnehmen. Die Untersuchung zeigt auf, wie sich Kriminalität bei Jugendlichen bis zum Erwachsenwerden entwickelt. Ein Ergebnis der Untersuchung, die gestern veröffentlicht worden ist, hat die Studienleiter besonders überrascht: Migranten sind nicht häufiger an Gewaltdelikten wie Körperverletzung beteiligt als Deutsche. "Damit hatten wir nicht gerechnet, zumal andere Untersuchungen in der Vergangenheit immer zu gegenteiligen Ergebnissen kamen", sagt Klaus Boers, Kriminologe an der Universität Münster. Ein Grund dafür sei der unterschiedliche Umgang mit Alkohol bei deutschen und ausländischen Jugendlichen. So seien türkische Teenager - meist aus religiösen Gründen - wesentlich seltener betrunken als ihre deutschen Altersgenossen.

Weniger Gewalt unter Alkoholeinfluss

"Es ist erwiesen, dass unter Alkoholeinfluss deutlich mehr Gewalttaten geschehen", sagt Jost Reinecke, Mitautor der Studie und Soziologe an der Universität Bielefeld. Wer andere schlägt, schaut meistens auch Gewaltfilme und spielt sogenannte "Baller-Spiele" am Computer. "Der Konsum davon steigert die Befürwortung von Gewalt", sagt Reinecke. Insgesamt liegt der Anteil ausländischer Jugendlicher an allen Straftaten bei 40 Prozent, die Hälfte davon werde von Türken begangen. Erstaunlich ist auch, dass 84 Prozent der Jungen und 69 Prozent der Mädchen bis zum 18. Lebensjahr mindestens einmal eine leichte bis mittelschwere Straftat begehen wie zum Beispiel Ladendiebstahl. "Jugendliche versuchen, ihre Grenzen auszutesten. Dadurch lernen sie, was verboten ist und was nicht", erklärt Boers. Straffällig werden die meisten Heranwachsenden zwischen 13 und 15 Jahren. Doch nur wenige von ihnen bleiben auch kriminell. Probleme bereiten den Sicherheitsbehörden lediglich sechs bis acht Prozent der Jugendlichen: die sogenannten Intensivtäter. Das sind Teenager, die schon mehrfach bei der Polizei auffällig geworden sind. "Sie sind verantwortlich für die Hälfte aller Straftaten und mehr als drei Viertel der Gewaltdelikte", erklärt Reinecke. Doch auch sie schlagen später als Erwachsene nicht zwangsläufig eine kriminelle Laufbahn ein.

"Die These, einmal Verbrecher, immer Verbrecher, ist falsch", betont Studienleiter Klaus Boers. Die Zahl der von Intensivtätern begangenen Delikte geht ihm zufolge gegen Ende des Jugendalters deutlich zurück. Damit widerlegt die Studie ein gängiges Vorurteil in der bisherigen Kriminalitätsforschung. Die Verhaltensänderung bei Intensivtätern hänge oft mit einem festen Arbeitsplatz und der späten Einsicht zusammen, dass Kriminalität nichts bringe, erläutert der Wissenschaftler. Doch bis dahin, das räumen die Forscher ein, sei es ein weiter Weg, bei dem zu harte Strafen wie Jugendgefängnis wenig förderlich seien. "Im Knast wird nur über Straftaten gesprochen. So kommt man nicht von der Kriminalität weg", sagt Boers. Stattdessen müsste alles daran gesetzt werden, um die Jugendlichen wieder in die Gesellschaft einzubinden.

Daten stammen aus Duisburg

Zwar stammen die Daten der Studie ausschließlich aus Duisburg. Doch sagen die Wissenschaftler, dass die Ergebnisse auf alle Großstädte übertragbar seien. In Nürnberg und Dortmund, wo die gleiche Langzeitstudie gerade anläuft, zeigten sich bereits deckungsgleiche Verhaltensmuster.

Johannes Meisters hat in diesem Jahr noch keine Post aus Münster bekommen. Er freut sich aber schon wieder darauf, die rund 70 Fragen zu seinen Lebensgewohnheiten zu beantworten. Denn dafür bekommt er Geld von der Uni. "Da liegt immer ein schönes Scheinchen dabei. "

(RP)
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