Altena im Sauerland Die Stadt, die Flüchtlinge liebt

Das sauerländische Altena hat mehr Flüchtlinge aufgenommen, als es gemusst hätte. Die meisten sind geblieben, denn die Stadt investiert in Integration. Nun überlegen auch 100 irakische Christen, aus Essen nach Altena umzusiedeln.

 Die Gruppe der Flüchtlinge, denen France Broens seit 2015 Deutsch beibrachte, hat sich aufgelöst. Doch die 71-Jährige hat wieder neue Schüler.

Die Gruppe der Flüchtlinge, denen France Broens seit 2015 Deutsch beibrachte, hat sich aufgelöst. Doch die 71-Jährige hat wieder neue Schüler.

Foto: Thissen

Hadeel al-Kajo gefällt ihr neues Leben in Essen. Die 31-jährige Irakerin wohnt seit einem Jahr mit ihrer Familie im Ruhrgebiet und mag den Trubel, dass auf der Straße immer etwas los ist und sie Menschen trifft, sobald sie das Haus verlässt. Doch so wirklich angekommen ist die junge Mutter noch nicht, ihr Kontakt beschränkt sich bislang auf Menschen aus ihrem Heimatland. "Es ist schwer, mit Deutschen ins Gespräch zu kommen", sagt sie. Deswegen wollen sie und ihr Mann mit den drei Kindern nach Altena im Sauerland ziehen. In der Kleinstadt im Märkischen Kreis hoffen sie, Anschluss und Arbeit zu finden. Elf weitere irakische Familien wollen mitkommen.

Altena sieht die Flüchtlinge als Chance. In den 70er Jahren hat die Stadt große Teile der Metallindustrie und etliche Arbeitsplätze verloren — mehr als 14.000 Menschen zogen weg. Geblieben sind knapp 17.000 Einwohner. Als die Flüchtlingszahlen 2015 deutschlandweit stiegen, witterte Bürgermeister Andreas Hollstein (CDU) eine Chance: Er lud Flüchtlinge ein, nach Altena zu ziehen. Es kamen 100 mehr, als die Stadt hätte aufnehmen müssen, 370 Asylbewerber insgesamt. Nach rund einem Jahr ziehen Hollstein und seine Mitarbeiter, die an der Integration der Menschen beteiligt sind, eine positive Bilanz.

Verwaltung setzt für jede Familie Paten ein

Die Kleinstadt hatte sich mächtig ins Zeug gelegt, damit der Zuzug der Flüchtlinge langfristig gelingen konnte. Die Familien, die aus Syrien und Afghanistan geflohen waren, wurden auf leerstehende Wohnungen in der ganzen Stadt verteilt, damit sie Kontakt zu Einheimischen herstellen konnten und nicht isoliert in einer Unterkunft leben mussten. "Wir konnten das machen, weil wir knapp zwölf Prozent Leerstand haben", sagt Hollstein. "Das klappt gut." Die Flüchtlinge profitieren von dieser Lösung, für die Stadt ist sie zudem günstiger als eine betreute Sammelunterkunft. "Im Gegensatz zu Großstädten waren wir da im Vorteil", sagt der Bürgermeister.

 Hadeel al-Kajo (31) und ihr Mann Jolan Yacoob al-Shashi (37) mit der wenige Wochen alten Aodela sind irakische Christen und wollen aus Essen nach Altena umziehen. Die zwei größeren Kinder, Andela (9) und Andrean (6), waren beim Fototermin in der Schule.

Hadeel al-Kajo (31) und ihr Mann Jolan Yacoob al-Shashi (37) mit der wenige Wochen alten Aodela sind irakische Christen und wollen aus Essen nach Altena umziehen. Die zwei größeren Kinder, Andela (9) und Andrean (6), waren beim Fototermin in der Schule.

Foto: Bretz

Außerdem setzte die Verwaltung für jede Familie Paten ein. Bernadette Koopmann ist eine von ihnen. Die dreifache Mutter betreut seit einem Jahr eine afghanische Familie, hilft ihnen bei Behördengängen und begleitet derzeit die schwangere Mutter zu Arztterminen. Nebenbei gibt sie Sprachkurse. "Es ist anstrengend", resümiert Koopmann. "Es bleibt viel liegen, und ich bin oft gestresst." Doch ans Aufhören denkt die 45-Jährige nicht. "Uns geht es auch gut, wenn das Haus nicht jeden Tag aufgeräumt ist", sagt sie augenzwinkernd. Auch France Broens (71) ist noch immer dabei. Zwar hat sich die Gruppe, der sie Deutsch beibrachte, inzwischen aufgelöst. Aber es sind neue Schüler hinzugekommen. "Sie sind sehr motiviert, es macht großen Spaß mit ihnen", sagt Broens, die vor der Pensionierung an einem Berufskolleg unterrichtete.

Bürgermeister Hollstein weiß, dass es ohne die freiwilligen Helfer nicht so gut geklappt hätte. "Sie haben viel aufgefangen", sagt der 53-Jährige. Zudem haben die geringen Mieten (3,5 bis vier Euro pro Quadratmeter) den Haushalt entlastet. "Durch die 100 zusätzlichen Asylbewerber sind keine Mehrkosten entstanden", sagt Hollstein. 2015 habe die Stadt das Budget von rund 990.000 Euro einhalten können und werde auch in diesem Jahr den Rahmen von 2,5 Millionen Euro voraussichtlich nicht übersteigen, sagt Kämmerer Stefan Kemper. Mit der zunehmenden Zahl der Flüchtlinge war auch das Budget angepasst worden. In der Stadtverwaltung selbst sind neue Arbeitsplätze entstanden. Neben der Gleichstellungsbeauftragten Anette Wesemann gibt es inzwischen drei weitere Kolleginnen, die für die Betreuung und Integration der Flüchtlinge zuständig sind. Wesemann ist stolz: "Einige der Familien vom vergangenen Jahr sind in Großstädte gezogen, aber die meisten von ihnen sind doch nach Altena zurückgekommen."

 Joseph Anthony aus Nigeria will Altenpfleger werden.

Joseph Anthony aus Nigeria will Altenpfleger werden.

Foto: Emy

In Essen hat all das die syrisch-katholische Gemeinde beeindruckt. Der Wunsch nach einem Ortswechsel sei bei vielen Mitgliedern groß, sagt Vorsitzender Talal Eshaq. In Essen sei die Integration schwierig. "Die meisten wohnen in einem Stadtteil mit vielen Migranten und treffen kaum auf Deutsche", berichtet der Iraker (49), der vor 13 Jahren nach Deutschland zog. Er hofft, dass seine Gemeindemitglieder, die vor allem aus dem Irak stammen, in Altena schneller einen Sprachkursus bekommen sowie eine Aus- oder Weiterbildung machen können.

Bei Bürgermeister Hollstein stieß er auf offene Ohren. Mit fünf Bussen fuhren rund 250 interessierte Gemeindemitglieder im Sommer ins Sauerland, um sich Altena anzugucken. Kritik, dass er so noch mehr Flüchtlinge holen würde, lässt der Bürgermeister nicht gelten. "Die Iraker sind anerkannte Flüchtlinge und können hinziehen, wo sie wollen", sagt er. Der Stadt entstünden keine Kosten, weil sie Unterstützung über das Jobcenter bezögen.

Etwa 100 Menschen aus Essen wollen umziehen

Zwölf Familien aus Essen — etwa 100 Menschen — haben ernsthaft Interesse an einem Umzug zum nächsten Schuljahr. Darunter Hadeel al-Kajo und ihr Mann Jolan Yacoob al-Shashi mit ihren Kindern Andela (9), Andrean (6) und Aodela, erst wenige Wochen alt. Der 37-jährige Vater hat Wirtschaft studiert und zuletzt als Leiter der Buchhaltung bei General Motors in Mossul gearbeitet. In diesem Bereich würde er auch gerne hier anfangen, trotz der Sprachbarriere, sagt er auf Englisch. "Ich weiß, dass es schwierig ist, aber ich werde alles dafür tun."

Seine Entscheidung, zusätzliche Flüchtlinge aufzunehmen, hat Hollstein nie bereut, doch er musste lernen, mit denen umzugehen, die anderer Meinung sind. Einen Aktenordner umfasst diese Beziehung, darin teils wüste Beschimpfungen. In drei Fällen schaltete der Bürgermeister den Staatsschutz ein. Den Verdacht, dass Flüchtlinge vermehrt Straftaten begehen, bestätigt die Polizei nicht: Die Zahl der Delikte sei 2015 im Vergleich zum Vorjahr um knapp zehn Prozent gesunken. Für 2016 liegen die Zahlen nicht vor.

Der Iraker Jolan Yacoob al-Shashi hofft auf eine Erfolgsgeschichte wie die von Joseph Anthony. Der 24-Jährige war aus Nigeria übers Mittelmeer geflüchtet, in Altena versucht er, Fuß zu fassen. Lehrerin Broens bezeichnet ihn als Sprachtalent: "Er hat wahnsinnig viel gelernt." Anthony hat mittlerweile eine eigene Wohnung und arbeitet seit August in einer Pflegeeinrichtung. Er bemüht sich, noch besser Deutsch zu lernen, um eine Ausbildung zum Altenpfleger anzufangen - und zu bleiben. "Altena ist zwar klein, aber sehr schön", sagt er.

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