Geschichte Aus Feindeskindern wurden Freundeskinder

Düsseldorf · Mindestens 400.000 "Besatzungskinder" wurden nach dem Zweiten Weltkrieg geboren. Sie und ihre Mütter wurden oft geächtet.

 Andy und seine Mutter Josefine im Jahr 1961.

Andy und seine Mutter Josefine im Jahr 1961.

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Ostern 1952. Ein Dorf bei Heidelberg, amerikanische Besatzungszone. Carl, gerade sieben Jahre alt geworden, wird von seiner Mutter zur Schule gebracht. Es ist sein erster Schultag. Seine Mutter hat ihn für diesen Anlass fein angezogen. Carl trägt Hemd und Krawatte. Seine schwarzen Lederschuhe glänzen. Er fühlt sich wohl in der Kleidung, freut sich auf neue Freunde, auf gemeinsame Ausflüge. Doch das ändert sich schlagartig, als der farbige Junge das Klassenzimmer betritt. Sofort wird ihm klargemacht, dass man ihn hier eigentlich nicht haben will, ihn, den Sohn eines amerikanischen Soldaten und einer deutschen Mutter. Der Lehrer befiehlt ihm, sich in die letzte Reihe zu setzen, neben ihm darf niemand Platz nehmen. Er soll ruhig sein und den Mund nur aufmachen, wenn er gefragt wird. Man bezeichnet ihn als "Feindeskind", behandelt ihn wie einen Aussätzigen, über seine Mutter muss er sich vom ersten Schultag an Schimpfwörter anhören. Seinen Vater kennt Carl nicht. Der hat die Familie früh verlassen.

Die Ostertage vor 63 Jahren werden für Zehntausende der sogenannten "Besatzungskinder" im Nachkriegsdeutschland zu einem einschneidenden Erlebnis. Mit dem ersten Schultag tragen sie ihr Stigma, die Tochter oder der Sohn eines Alliierten zu sein, in die Öffentlichkeit. Konnten ihre Mütter sie vorher weitestgehend von außerfamiliären Anfeindungen abschirmen, sind die Kinder der Jahrgänge 1945/46 nun auf sich gestellt. "An Ostern 1952 zeigt sich, dass die damalige Nachkriegsgesellschaft noch nicht bereit für diese Kinder war", sagt der Historiker Rainer Gries, einer der führenden Experten auf dem Gebiet der "Besatzungskinder" in Deutschland. "Man wusste nicht, wie man mit ihnen umzugehen hat. Viele sahen in ihren unschuldigen Gesichtern nur die Augen der alliierten Soldaten, wegen derer der Krieg verloren wurde", betont er.

Die Hilflosigkeit im Umgang mit den "Besatzungskindern" schlägt sich oft in blankem Hass nieder. Man erwägt, sie alle in ein Heim zu stecken oder abzuschieben in die Länder ihrer Väter. Im ersten Nachkriegsjahrzehnt werden mindestens 400 000 Kinder geboren, deren Väter feindliche Soldaten und deren Mütter zumeist junge Deutsche sind. Nur in den seltensten Fällen erkennen die Männer ihre Vaterschaft und ihre Verantwortung amtlich an. Zeit ihres Lebens tragen diese Kinder ein doppeltes Stigma: Sie sind unehelich und zudem häufig Kinder einer Vergewaltigung oder einer Beziehung mit dem damals verhassten Feind. Ihr soziales Umfeld grenzt sie aus, verhöhnt und misshandelt sie psychisch und physisch - sie gelten als "Bastarde", "Russenbälger", "Amikinder" oder gar als "Negerbrut". Viele von ihnen stammen aus den sogenannten Bratkartoffelverhältnissen, aus den der enormen Not geschuldeten Beziehungen zwischen deutschen, mittellosen Frauen und jungen Besatzern, die sich in der Fremde nach einem familiären Umfeld sehnen. "Es gab so viele alleinerziehende Mütter, die nicht wussten, wie sie durchkommen sollen, ohne Dach über dem Kopf, ohne Essen", sagt Gries. "Die jungen alliierten Soldaten konnten ihnen all das bieten." Diese Verhältnisse dauern in der Regel zwei bis drei Jahre. Dann werden die Soldaten abgezogen oder woandershin versetzt. Zurück bleiben die Frauen mit den Kindern, für die ihre Väter meistens nicht aufkommen. Obwohl die Zeiten im zerstörten Nachkriegsdeutschland für sie schwierig sind, nehmen sich 70 Prozent der Mütter dieser Kinder an und ziehen sie groß. "Die anderen haben sie in der Regel in Heime gegeben", erzählt Gries.

Es ist 1959. Carl ist mit der Schule fertig und sucht eine Lehrstelle. Der Blick auf die "Besatzungskinder" hat sich etwas gewandelt. Doch noch längst sind sie nicht völlig akzeptiert in der Gesellschaft. Carl hat es schwer, einen Ausbildungsplatz zu finden. Er will Verkäufer werden. Nach Monaten des Suchens stellt ihn ein Händler für Eisenwaren ein. Doch an der Verkaufstheke will er Carl nicht haben. Er versteckt ihn im Hinterzimmer, in der Werkstatt, wenn Kunden im Laden sind. Niemand soll sehen, dass ein "Amikind" für ihn arbeitet.

Erst Mitte der 60er Jahre haben sich die Deutschen allmählich an die "Besatzungskinder" gewöhnt. Sie haben in den beiden deutschen Nachkriegsstaaten, der BRD und der DDR, die Gesellschaft nachhaltig verändert. Die Forschung ist sich heute weitestgehend darüber einig, dass diese Kinder nicht nur Probleme brachten, sondern auch Chancen bargen. "Allein durch ihr Dasein stellten sie eine ständige Herausforderung für ihr Umfeld dar", erklärt Gries. Sie avancierten zu Botschaftern europäischer und transatlantischer Aushandlungs- und Annäherungsprozesse. "Durch sie haben viele gelernt, wie man mit dem Fremden umgeht", betont Gries.

Carl ist heute 70 Jahre alt und schon seit einigen Jahren in Rente. Er hat geheiratet und zwei erwachsene Söhne. Und er wohnt längst nicht mehr in der Nähe von Heidelberg, sondern schon seit einigen Jahrzehnten in Stuttgart. Er weiß bis heute nicht, wer sein Vater ist. Lange hat er das verdrängt. Doch jetzt im Alter stellt er Nachforschungen an. Carl weiß, dass sein Vater vermutlich nicht mehr lebt. Dennoch sucht er ihn. Seine Suche beginnt an Ostern 1952.

(RP)
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