Ehemaliger SS-Wachmann vor Gericht Beihilfe zum Mord in mindestens 170.000 Fällen?

Detmold · Einer der letzten NS-Prozesse beginnt. Ab Donnerstag muss sich ein ehemaliger Wachmann aus Auschwitz vor dem Detmolder Landgericht verantworten. Überlebende hoffen auf späte Gerechtigkeit.

 Der Auschwitz-Überlebende Leon Schwarzbaum zeigt ein altes Foto, das ihn selbst (l) neben seinem Onkel und seinen Eltern zeigt, die alle drei in Auschwitz ums Leben kamen.

Der Auschwitz-Überlebende Leon Schwarzbaum zeigt ein altes Foto, das ihn selbst (l) neben seinem Onkel und seinen Eltern zeigt, die alle drei in Auschwitz ums Leben kamen.

Foto: dpa, bt ink gfh

Mit Beklemmung und Anteilnahme sehen Auschwitz-Überlebende dem Prozess gegen einen Ex-SS-Wachmann des gleichnamigen Konzentrationslagers entgegen. Der 94-Jährige steht ab Donnerstag vor dem Landgericht Detmold. 71 Jahre nach ihrer Leidenszeit verfolgen Auschwitz-Überlebende aus aller Welt den Prozessauftakt — auch als Nebenkläger, wie das Internationale Auschwitz Komitee mitteilt.

Aus Sicht von Auschwitz-Überlebenden und ihren Nachfahren ist der Prozess eine längst überfällige Korrektur jahrzehntelangen Justizversagens. Vor einem deutschen Gericht schildern zu können, was der Holocaust ihnen und ihren Familien zugefügt habe, sei für sie von besonderer Bedeutung, berichteten Nebenkläger und ihre Anwälte am Mittwoch. "Dieser Prozess hätte schon vor 40, 50 Jahren stattfinden müssen. Aber auch jetzt ist es nicht zu spät, um darzustellen, was einmal war", sagte Justin Sonder (90), der als Jugendlicher das nationalsozialistische Konzentrationslager nur knapp überlebte.

Worum geht es in dem Prozess?

 Dem 94-jährige Angeklagten Reinhold H. wird vorgeworfen, während des Holocausts die Massenmorde in dem riesigen Lagerkomplex von Auschwitz-Birkenau unterstützt zu haben.

Dem 94-jährige Angeklagten Reinhold H. wird vorgeworfen, während des Holocausts die Massenmorde in dem riesigen Lagerkomplex von Auschwitz-Birkenau unterstützt zu haben.

Foto: afp

Dem 94-jährigen Angeklagten Reinhold H. wird vorgeworfen, während des Holocausts die Massenmorde in dem riesigen Lagerkomplex von Auschwitz-Birkenau unterstützt zu haben. Laut Staatsanwaltschaft war der damals etwa 20-Jährige von 1942 bis 1944 als Mitglied des SS-Totenkopfsturmbanns dort. Er bewachte demnach sowohl das sogenannte Stammlager I als auch Selektionen der mit Deportationszügen an der "Rampe" ankommenden Juden, die im Lagerteil Birkenau meist sofort ermordet wurden. Dort befanden sich die Gaskammern.

Konkret wirft die Staatsanwaltschaft dem Mann Beihilfetaten im Zeitraum von Januar 1943 bis 1944 vor. Der Anklage zufolge wusste H., dass die Deportierten in Birkenau ständig "in großer Zahl" grausam sowie heimtückisch vergast wurden und dass im Stammlager Massenerschießungen und Selektionen für die Gaskammern stattfanden. H. räumte im Vorfeld des Prozesses nach Gerichtsangaben nur ein, das Stammlager bewacht zu haben. Er stritt demnach ab, an Tötungshandlungen beteiligt gewesen zu sein.

Warum findet der Prozess erst jetzt statt?

Durch eine geänderte Rechtsauslegung sind zuletzt die Hürden für Verurteilungen wegen Beihilfe zu NS-Verbrechen gesunken. Jahrzehntelang galt es als unumgänglich, Beschuldigten eine konkrete Beteiligung an einer konkreten Tötungshandlung nachzuweisen — etwa die Bewachung eines ganz bestimmten Deportationszugs an einem bestimmten Tag. Hinzu kam die Tendenz, den Beitrag kleiner "Gehilfen" in Rahmen des "industriellen Massenmords" rechtlich als zu geringfügig für eine Verurteilung anzusehen.

Erst mit dem Schuldspruch gegen den Vernichtungslagerwachmann John Demjanjuk durch das Landgericht München 2011 begann sich dies zu ändern. Die Richter sahen nun schon die Zugehörigkeit zur Wachmannschaft eines Lagers, in dem massenhaft und systematisch gemordet wurde, als ausreichend dafür an, den Angeklagten wegen Beihilfe zu Tötungen zu verurteilen. Weil die Staatsanwaltschaften nach dem Demjanjuk-Urteil die Chancen auf eine Verurteilung steigen sahen, brachten sie noch einmal einige Strafverfahren auf den Weg.

Auch die Richter im Lüneburger Prozess gegen den Auschwitz-Buchhalter Oskar G. entschieden im vergangenen Jahr entsprechend. Sie betonten bei ihrem Schuldspruch, dass es unerheblich sei, ob die Hilfstätigkeiten des Angeklagten für das Morden unverzichtbar gewesen seien. Auschwitz sei eine "auf die Tötung von Menschen ausgerichtete Maschine" gewesen, in deren Funktionsabläufe sich niemand auch nur indirekt habe einfügen dürfen.

Wie viele ähnliche Prozesse wird es noch geben?

Mit Sicherheit stehen noch zwei Verfahren an, eventuell auch ein weiteres. Am 29. Februar beginnt der Prozess gegen einen in Auschwitz eingesetzten SS-Sanitäter vor dem Landgericht Neubrandenburg. Voraussichtlich im April startet das Verfahren gegen einen mutmaßlichen Auschwitz-Wächter in Hanau. Zudem ist eine frühere Funkerin in Auschwitz beim Kieler Landgericht angeklagt, die Richter dort haben aber noch nicht über die Eröffnung des Verfahrens entschieden.

Dass es noch weitere Auschwitz-Prozesse geben wird, ist eher unwahrscheinlich. Die Ermittlungsbehörden nehmen inzwischen aber längst andere Tatorte und Tatkomplexe ins Visier — etwa NS-Tötungsverbrechen im Konzentrations- und Vernichtungslager Majdanek.

Wie ist der Stand der gerichtlichen Aufarbeitung insgesamt?

Mit Blick auf Auschwitz und den Holocaust insgesamt ziehen viele Beobachter eine ernüchternde Bilanz. Von den 6500 SS-Angehörigen, die in dem größten Vernichtungslagerkomplex Dienst taten, wurden in Deutschland nach Angaben von Juristen bisher lediglich etwa 50 rechtskräftig verurteilt. Die Zahl der wegen NS-Verbrechen eingeleiteten Verfahren beläuft sich seit Beginn der systematischen Aufarbeitung in der Bundesrepublik 1958 auf insgesamt etwa 18.400. Rechtskräftig verurteilt wurden dabei ungefähr 560 Menschen.

(bro/cne)
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