Todesdrohungen gegen Kinder Der hohe Preis von Axel W.s gelebtem Traum

Ein bis dahin unbescholtener Mann aus Eschweiler erpresst zwischen 2016 und 2017 mehrere Familien in der Region. Er droht damit, die Kinder der Eltern zu töten. Wie konnte es nur so weit kommen?

 Der Angeklagte mit seinem Anwalt Peter Schäfer im Gericht in Aachen.

Der Angeklagte mit seinem Anwalt Peter Schäfer im Gericht in Aachen.

Foto: dpa, rr

Axel W. wollte nach Italien, schon immer, jedenfalls so lange er denken kann, das war sein Lebenstraum. Er träumte von einem Bistro, einem Eiscafé oder wenigstens von einem rollenden Hot-Dog-Stand, mit dem er durch Rom fahren und das Wenige verdienen könnte, was er zum Leben braucht. In Italien, dachte er, würde alles so leicht sein.

Als Axel W. unverhofft zu Geld kam, sah er seine Zeit gekommen. Obwohl er kaum Italienisch spricht, fuhr nach Italien, er glaubte, er lebe seinen Traum. Einige Monate lang blieb er in Rom. Doch mit der Gastronomie wollte es nicht klappen, die Behörden, die Sprache. In Italien, merkte er nun, war doch nicht alles so leicht. 2016 war das. Er bewarb er sich noch als Hausmeister an Schulen und als Fahrer an der deutschen Botschaft, er hätte so vieles getan, doch es wurde nichts. Das viele Geld war aufgebraucht.

Mit seinen letzten Euros fuhr er zurück nach Eschweiler und begann, Erpresserbriefe zu schreiben.

Seit Dienstag steht Axel W. (50) aus Eschweiler vor dem Aachener Landgericht, die Staatsanwaltschaft wirft ihm vor, 13 Familien aus Aachen, Baesweiler, Düren und Stolberg zwischen Mai 2016 und Januar 2017 erpresst zu haben. In anonymen Briefen verlangte er jeweils 20.000 Euro, anderenfalls sei "das Leben ihres Kinder verwirkt", so steht es in einem seiner Schreiben. Über mehrere Monate hinweg verbreitete W. in der Region auf diese Weise Angst und Schrecken, die Sache sprach sich rum. Als keines seiner Opfer zahlte, aber auch keiner der Familien etwas zustieß, als die Ermittler herausfanden, dass Axel W. auch bereits gestorbene Menschen erpresst hatte und selbst kinderlosen Ehepaaren mit dem Tod ihrer Kinder gedroht hatte, wurde der Polizei klar, dass der damals noch unbekannte Erpresser seine Opfer wahllos aussucht, dass von ihm sehr wahrscheinlich keine Gefahr ausgeht. Ein Amateur.

"Dann erzählen Sie mal", sagte Jürgen Beneking, Vorsitzender Richter der 7. Großen Strafkammer am Landgericht.

Firma verkauft, Stelle weg

Axel W. stammt aus Bergheim-Oberaußem, vier Geschwister, Mutter Hausfrau, Vater tagsüber Schlosser, abends Trinker und Schläger. Der Vater hört erst auf, Axel zu verprügeln, als er mit dem Kampfsport beginnt. Hauptschulabschluss, trotzdem findet er keinen Ausbildungsplatz. Er arbeitet eine Weile in einer Glashütte. Als ihm dort ein Ausbildungsplatz zugesagt wird, geht die Glashütte pleite. Hochzeit 1991, Axel W. und seine Frau bekommen zwei Kinder, zuerst einen Jungen, drei Jahre später ein Mädchen. Er arbeitet in einer Chemiefabrik, auch dort wird es mit der Lehrstelle nichts: Der Personalchef mag ihn nicht. Trotzdem bleibt er 28 Jahre lang in der Fabrik, "als ungelernter Facharbeiter", wie W. sagt, gutes Gehalt. Dann wird die Fabrik an einen US-Konzern verkauft, 2015 verliert Axel W. seine Stelle. Ein Jahr lang klagt er vor Gericht, dann bekommt er eine Abfindung, 100.000 Euro brutto, die er netto, etwas mehr als 60.000 Euro, nach Italien trägt und überwiegend dort verbraucht.

Doch seine Probleme beginnen schon viel früher, 1999, mit der Scheidung. Weil er möchte, dass seine Kinder und ihre Mutter in geregelten Verhältnissen leben, übernimmt Axel W. alle Schulden, die auf der 1996 gekauften Eigentumswohnung in Bergheim lasten. Er selbst zieht nach Eschweiler. So lange er seine Stelle hat, gelingt es ihm mühsam, den Kredit zu bedienen, den Unterhalt für die Kinder und seine neue Wohnung zu bezahlen. Doch als er 2015 seine Stelle in der Chemiefabrik verliert, wachsen seine Schulden in rasender Geschwindigkeit. Axel W. erlebt, dass zwischen der Zugehörigkeit zur Mittel- und der Zugehörigkeit zur Unterschicht manchmal nur wenige Wochen liegen.

Ein riesiger Ermessensspielraum

Die Aachener Staatsanwaltschaft hat Axel W. wegen versuchter räuberischer Erpressung angeklagt, die Mindeststrafe beträgt ein Jahr Haft. Weil im Gesetz aber keine Höchststrafe für räuberische und versuchte räuberische Erpressung definiert ist, hat das Gericht einen riesigen Ermessenspielraum. Theoretisch ist eine Strafe zwischen einem und 15 Jahren Haft möglich und alles, was dazwischen liegt. Deswegen ist es für die Richter in diesem Fall so entscheidend herauszufinden, warum der nicht vorbestrafte Axel W. versucht hat, so viele Menschen zu erpressen, was sein Motiv war, warum er kriminell geworden, was er für ein Mensch ist. Gewohnheitskrimineller oder Mann in einer Ausnahmesituation?

Als Axel W. aus Italien zurückkommt, sind seine Schulden weiter gewachsen. Er hat den Kredit für die Eigentumswohnung in Bergheim nicht weiterbedient, während der in Italien war, auch die GEZ-Gebühren und die Krankenkasse nicht. Ungezählte Mahnschreiben kommen mit der Post, regelmäßig klingelt der Gerichtsvollzieher an seiner Wohnungstür. Er weiß nicht mehr weiter.

Ende Mai 2016 schreibt Axel W. seine ersten beiden Erpresserbriefe, dann findet er doch Arbeit. Bis November 2016 ist er in einem Chemiewerk tätig, aus gesundheitlichen Gründen muss er dort aufhören. Weil die Krankenkasse noch 9000 Euro von ihm zu bekommen hat, glaubt W., dass er nicht zum Arzt gehen kann. Er weiß nicht, dass er sich ans Sozialamt wenden könnte.

Es gibt Tage, da weiß er nicht, wovon er sich etwas zu Essen kaufen soll. Eine gute Freundin geht manchmal für ihn einkaufen. Vor Gericht sagte diese Freundin, dass "Axels Kühlschrank meistens leer" war. Sie riet ihm zu einer Privatinsolvenz, schrieb ihm Adressen von Beratungsstellen auf. Aber Axel W. habe nichts unternommen.

Irgendwann im Januar 2017 schreibt er elf weitere Erpresserbriefe, Experten des Landeskriminalamtes stellen später fest, dass er die Briefe und Umschläge mit Handschuhen angefasst hat, um keine Spuren zu hinterlassen. Doch die Briefmarken leckte er mit der Zunge ab und hinterließ mit seinem Speichel DNA-Spuren, die ihn später schwer belasten.

Richter Beneking fragte: "Wie sind Sie überhaupt auf Ihre Opfer gekommen?"

Bei Google habe er nach Ingenieuren und Mitgliedern in umliegenden Golfclubs gesucht. So habe er völlig wahllos seine Opfer gefunden, und so erklärt sich auch, dass er kinderlose Ehepaare und sogar Tote zu erpressen versuchte.

Und Norbert T. aus Düren. Als er als Zeuge erklären sollte, wie das so war, als der Erpresserbrief vergangenen Januar kam, rang Norbert T. um Worte: "Das ist Wahnsinn", sagte er, "das kann man sich nicht vorstellen." Statt die geforderten 20 000 Euro an der im Erpresserbrief beschriebenen Übergabestelle zu deponieren, überlegte T., ob er nicht selbst dort auf den Erpresser warten sollte. Die Polizei riet dringend davon ab. Hätte er Axel W. in die Finger bekommen, sagte T., "dann säße ich jetzt auf der Anklagebank".

Ein Freund von Axel W. beschrieb ihn als zuverlässigen, hilfsbereiten Menschen, nichts habe darauf hingedeutet, dass es so weit mit ihm kommen würde. Er habe sich um seine Kinder gekümmert, und obwohl zuletzt der Kontakt zu den Kindern abgebrochen sei, habe das keine ernsten Gründe. "Axel ist ein Dickkopf, und der Apfel fällt nicht weit vom Stamm", sagte der Freund.

Was der Freund den zu den Erpressungen sage, wollte Richter Beneking wissen. "Als ich von den Erpressungen hörte, war ich schockiert, was Axel getan hat, empfinde ich als perfide", sagte der Freund. "Aber nie im Leben hätte er einem der Kinder etwas angetan. In 100 Jahren nicht."

Verwandte und nahe Angehörige müssen vor Gericht nicht als Zeugen aussagen, aber sie dürfen. Und so zeichneten auch seine Kinder ein positives Bild von ihrem Vater, der zusammengesunken auf der Anklagebank saß. Seine Tochter (23) sagte, der Italien-Traum ihres Vaters sei "realitätsfern" gewesen, schon weil es ihm an finanziellem Geschick fehle. Er sei ein positiver Typ, der gar nicht damit rechne, dass etwas nicht so funktionieren könnte, wie er sich das ausmalt. "Wenn ich mit meinem Vater sprach", sagt seine Tochter, "dachte ich manchmal, ich rede mit einem Gleichaltrigen."

Auch sein Sohn (26) hält Axel W. für "etwas unreif". 2015 habe es wiederholt Streit über die Frage gegeben, ob es richtig ist, dass die Bundesregierung für so viele Flüchtlinge die Grenzen geöffnet hat. Der Sohn meinte ja, der Vater nein, Axel W. habe sich auch einige Zeit in einer Art Bürgerwehr betätigt, die in Eschweiler die Straßenkriminalität bekämpfen wollte, was Axel W. dem Gericht vorher schon gebeichtet hatte. Als Extremisten wollte Axel W. aber niemand bezeichnen, weder seine Kinder noch seine Freunde.

Im Saal A 0.020 des Aachener Landgerichts saßen weitere Erpressungsopfer von Axel W., die skeptisch zur Kenntnis nahmen, welch überwiegend positives Bild die Zeugen von W. zeichneten. Ist er wirklich nur ein harmloser Träumer, der aus Verzweiflung übers Ziel hinausgeschossen ist?

Die skeptischen Opfer

Axel W. wurde am 1. März festgenommen, wenige Stunden nachdem die Polizei Fahndungsfotos von ihm veröffentlichte. Die Fotos hatte eine an der Übergabestelle installierte Kamera aufgenommen, als Axel W. Ende Januar nachschaute, ob eines seiner Opfer gezahlt hatte.

Als ein Amtsrichter in Aachen einen Tag später entschied, dass Axel W. zum ersten Mal in seinem Leben ins Gefängnis muss, Untersuchungshaft in der JVA Aachen, war Axel W. erleichtert. Keine Angst mehr haben müssen, die Post zu öffnen, kein Versteckspiel mehr in der eigenen Wohnung, wenn es klingelt, weil es wieder der Gerichtsvollzieher sein könnte. Und endlich wieder regelmäßig essen. Elf Kilo hat er in der Haft zugenommen, aber er ist immer noch schlank. "Im Gefängnis gibt es donnerstags Quark, freitags frischen Fisch und sonntags Braten", sagte Axel W. "Es hört sich makaber an, aber als ich ins Gefängnis musste, war das für mich ein echter Glücksfall."

Der Prozess wird am 13. September fortgesetzt.

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