Flüchtlinge in Deutschland Wiedersehen nach 1162 Tagen

Düsseldorf · Esmail Manla Ali floh vor gut drei Jahren vor dem Krieg in Syrien nach Deutschland. Seiner Familie versprach er, sie nachzuholen. Jetzt ist sie in Düsseldorf gelandet.

 Esmail Manla Ali (34) empfängt am Düsseldorfer Flughafen seine Kinder Farah (6) und Ahmed (3) sowie Ehefrau Safaa Mahmoud (30).

Esmail Manla Ali (34) empfängt am Düsseldorfer Flughafen seine Kinder Farah (6) und Ahmed (3) sowie Ehefrau Safaa Mahmoud (30).

Foto: Anne Orthen

Flughafen Düsseldorf, 30. Juni 2017, 05.30 Uhr. Der Himmel ist in ein mattes Blau getaucht. Von Morgenröte bisher keine Spur. Nur wenige Menschen schleichen durch die Ankunftshalle des Düsseldorfer Flughafens. Die Mitarbeiter in den Geschäften sind selbst erst seit einer knappen Stunde bei der Arbeit. Aus der Bäckerei vor "Ankunft 6" weht einem der Duft von frisch gebackenen Brötchen entgegen. Esmail Manla Ali (34) bestellt einen Kaffee. Er hat die ganze Nacht nicht geschlafen. Heute will er seine Familie abholen. 1162 Tage war er von ihr getrennt — seit seiner Flucht aus Syrien am 24. April 2014.

Um 06.10 Uhr soll die Maschine landen. Flugnummer ST 3049, Germania, Beirut-Düsseldorf. Esmail trägt einen schwarzen Anzug. Dazu ein weißes Hemd mit einer fein schwarz-weiß gepunkteten Krawatte. Schwarze Lackschuhe. In der Hand hält er einen Strauß weiße Pfingstrosen. Esmail legt die Hand auf seinen Brustkorb und ahmt seinen Puls nach. Er liegt weit über 70 Schlägen pro Minute.

Esmail zückt sein Smartphone. Die Maschine hat Verspätung. 06.38 Uhr steht jetzt auch auf der Anzeigetafel. "Bei mehr als drei Jahren macht eine halbe Stunde auch nichts mehr aus", sagt Esmail. Er irrt. Sein Körper platzt fast vor Aufregung.

 Gespanntes Warten, die letzten Sekunden.

Gespanntes Warten, die letzten Sekunden.

Foto: Anne Orthen

Über die App "Flightradar24" verfolgt Esmail den Flug aus Beirut. 06.30 Uhr, die Maschine ist noch über Tschechien, erst in wenigen Minuten wird sie den deutschen Luftraum erreichen. 06.38 Uhr wird der Pilot also nicht einhalten können. Die Wartehalle füllt sich. Ein Flieger aus Ankara ist gelandet. Esmail mustert die Reisenden. Natürlich ist seine Familie nicht darunter, doch sein suchender Blick verrät, dass er es sich wünscht. "Flightradar" verortet Flug ST 3049 jetzt kurz vor Coburg, Bayern.

Leben in Syrien und Flucht Esmail kommt 2003 mit 21 Jahren nach Damaskus. Aus seinem Heimatdorf Maskanah am Assadsee im Norden des Landes kennt er nur Felder und Bauernhöfe. Eine große Wohnung kann er sich in der 1,7-Millionen-Metropole nicht leisten, doch für zwei kleine Zimmer reicht es. Esmail beginnt eine Ausbildung zum OP-Assistenten und studiert parallel am Wochenende an der Universität Englisch.

 Ein dickes Küsschen für den Nachwuchs.

Ein dickes Küsschen für den Nachwuchs.

Foto: Anne Orthen

Seine Frau Safaa Mahmoud lernt Esmail 2009 an der Universität kennen. Er arbeitet bereits in einem Krankenhaus, sie studiert Englisch wie er. Am 5. Juli 2010 heiraten sie. Im Sommer 2011 wird Tochter Farah geboren, Sohn Ahmed im Oktober 2013. Die Familie zieht zurück nach Maskanah in das Haus von Esmails Vater. Es ist nur eine kurze Phase des Glücks.

Fast zur selben Zeit vertreiben Kämpfer der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) die Freie Syrische Armee aus der Großstadt Rakka gut 100 Kilometer östlich von Maskanah. In den darauffolgenden Monaten überfällt der IS weite Teile Nordsyriens - darunter auch Maskanah.

Flüchtlinge in Deutschland: Syrer kann Familie nach drei Jahren nach Deutschland holen
Foto: Anne Orthen

Die Miliz rekrutiert Esmail unter Todesandrohung, er soll für sie ein provisorisch eingerichtetes Krankenhaus verwalten und sich um verletzte IS-Kämpfer kümmern. Esmail hilft, um seine Familie zu schützen.

Eines Tages zerren die Dschihadisten einen Mann ins Krankenhaus. Er blutet stark am Unterarm. Die Terroristen haben ihm kurz zuvor mit einer stumpfen Machete die Hand abgehackt, weil sie ihn angeblich beim Stehlen erwischt haben. Nun wollen sie ihn verhören, doch dafür muss er zunächst am Leben bleiben. Die Schmerzmittel, die Esmail dem Mann verabreichen darf, reichen nicht aus, um diesen ruhigzustellen.

Als Esmail an jenem Abend nach Hause kommt, sagt er zu seiner Frau, sie solle alles verkaufen, egal zu welchem Preis, und mit den Kindern ins Nachbarland Libanon zu Verwandten gehen. Dort seien sie sicher. Der Süden des Landes ist in fester Hand der schiitischen Partei Hisbollah. Deren Miliz wird von der EU als terroristische Vereinigung eingestuft. Für Esmail und seine Familie aber ein Vorteil: Die sunnitischen IS-Kämpfer trauen sich nicht in das Gebiet. Esmail verspricht seiner Familie, nach Deutschland zu fliehen und sie nachzuholen. Am 24. April 2014 verlässt er Syrien.

Esmail schlägt sich zu Fuß in die Türkei durch. Von der türkischen Küste fährt er mit einem Boot nachts nach Griechenland. Ab Thessaloniki verharrt er 24 Stunden als blinder Passagier in einem Güterzug durch Mazedonien und Serbien. Immer wieder entkommt Esmail den Behörden, weil er Freundschaften zu Leuten knüpft, die Flüchtlingen helfen - meist aber nur für viel Geld.

In Ungarn jedoch schnappt ihn die Polizei. Die Beamten sperren ihn in einen Käfig und überlassen ihn draußen der Witterung. Später wird er in ein Flüchtlingscamp verlegt und entkommt abermals. Er besticht einen Taxifahrer, der ihn nach Österreich bringt. Am 19. August 2014 erreicht Esmail Deutschland.

Flughafen Düsseldorf Der Flieger hat mittlerweile mit eineinhalb Stunden Verspätung den Düsseldorfer Luftraum erreicht. Esmail starrt auf das kleine gelbe Flugzeugsymbol, das die Reise seiner Familie in der App kenntlich macht. Er zählt die Flughöhe herunter: noch 400 Fuß, noch 300, 200, 100. Gelandet. Esmail greift nach dem Blumenstrauß und stolziert in Richtung der Tür, durch die seine Familie in wenigen Minuten kommen wird.

Fast jeden Tag hat er in den vergangenen drei Jahren mit seiner Familie telefoniert, oft auch per Videochat. Sie haben dabei gelacht, geweint, sie haben sich gestritten und versöhnt, einander misstraut und wieder vertraut. Es war schwierig, sagt Esmail. Seine Kinder sind jetzt sechs und drei Jahre alt. Als er ging, waren sie zwei und sechs Monate. Ahmed konnte damals noch nicht sprechen. Wie wird er seinem Vater begegnen, der doch die meiste Zeit seines bisherigen Lebens nicht bei ihm war, sondern rund 4000 Kilometer entfernt? "Ich habe vergessen, wie meine Frau und meine Kinder riechen", sagt Esmail und schaut erwartungsvoll zur Tür.

Leben in Deutschland Über München und Dortmund kommt Esmail nach Düsseldorf. Deutschland ist in jenen Tagen (und vor allem in den kommenden Monaten) restlos überfordert mit den zahlreichen Flüchtlingen. Die Gerichte und das Migrationsamt (Bamf) können die Flut an Asylanträgen nur mühsam bearbeiten.

Esmail stellt am 15. Oktober 2014 seinen Asylantrag. Was folgt, ist eine bürokratische und rechtliche Odyssee, die ihm und seiner Familie viel abverlangen wird.

Ende Oktober stellt das Bamf einen Übernahmeantrag an Ungarn — mit der Begründung, dass Esmail dort während seiner Flucht erstmals in einem EU-Land mit seinem Fingerabdruck registriert wurde. Damit ist Ungarn gemäß den sogenannten Dublin-Richtlinien für Esmails Asylverfahren verantwortlich.

Doch so einfach will Esmail sein Versprechen, das er seiner Familie gegeben hatte, nicht brechen. Er nimmt sich eine Anwältin. Das Psychosoziale Zentrum Düsseldorf, in dem Esmail inzwischen wegen seiner Albträume in Behandlung ist, hilft bei der Vermittlung.

Der Fall geht vor Gericht, das Esmails Klage jedoch ablehnt. Esmail geht in Berufung. Mittlerweile sind neun Monate vergangen. Esmail erlebt seinen ersten Sommer in Deutschland. Da sein Flüchtlingsstatus noch nicht geklärt ist, darf er nicht arbeiten. Aber er muss seiner Familie Geld schicken, also arbeitet er schwarz auf Baustellen, sammelt Flaschen in der Düsseldorfer Altstadt und verteilt Flyer.

Im August 2015 wird die Berufung zugelassen. Ende Oktober knickt das Bamf ein, das Verfahren wird eingestellt. Am 11. November 2015 erhält Esmail einen Fragebogen für ein beschleunigtes Asylverfahren. Am gleichen Tag füllt er es mit seiner Anwältin aus und schickt es zurück. Die Monate vergehen.

Erst am 26. April 2016 gibt das Bamf bekannt, es bedarf einer erneuten Anhörung, weil in der Zwischenzeit die Vereinfachung beim Asylverfahren für syrische Flüchtlinge aufgehoben wurde. Esmail durchläuft auch dieses. Am 20. Juli 2016 entscheidet das Bamf: Esmail erhält den Flüchtlingsstatus. Er darf drei Jahre im Land bleiben, und: Er darf seine Familie nachholen. Doch es vergeht noch ein knappes Jahr, bis Esmail seinen elektronischen Pass bekommt, mit dem er für seine Familie ein Visum beantragen kann.

Esmail nutzt die Zeit: Er lernt Deutsch, arbeitet — mittlerweile legal — in einem Restaurant. Seit Anfang dieses Jahres hat er sogar eine Teilzeitstelle in seinem ursprünglichen Beruf: als OP-Assistent im Düsseldorfer St.-Martinus-Krankenhaus.

Flughafen Düsseldorf Die ersten Passagiere von Flug ST 3049 strömen aus der Gepäckband-Halle. Esmail wartet in erster Reihe. Dann erscheint seine Familie. Esmail reckt den Arm in die Luft und ruft nach seiner Frau und den Kindern. Seine Frau schiebt einen Gepäckwagen mit drei schweren Koffern vor sich her. Als sie ihn sieht, lächelt sie schüchtern. Mit jedem Schritt, den sie auf Esmail zugeht, werden ihre Augen glasiger und ihre Lippen zittriger. Esmail schließt sie in seine Arme. Er drückt sie fest an sich. Gut eine Minute lang verharren sie in dieser Position, dabei beginnt seine Frau, immer mehr zu weinen. Sie küssen sich nicht. Das Gefühl von Geborgenheit und Sicherheit während einer innigen Umarmung kann viel intensiver sein als ein Kuss.

Esmail weiß, dass jetzt noch viel Arbeit vor ihnen liegt. Eine größere Wohnung muss her, mehr Geld, seine Frau und die Kinder müssen Deutsch lernen, Farah muss in die Schule, Ahmed in die Kita. Doch die Familie hat schon viel geschafft, ohne zusammen zu sein. Jetzt sind sie es.

Später in seiner Wohnung sagt Esmail, dass er bei der Ankunft seiner Familie auf die Uhr geschaut habe. Vor drei Jahren habe er sie fast um die gleiche Zeit verlassen. Das muss ein Zeichen sein, sagt er. Für was? "Für ein gutes, neues Leben."

(jaco)
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