Armut in Deutschland Immer mehr Ältere brauchen die Tafel

Kaarst · 1,5 Millionen Menschen in Deutschland sind auf Unterstützung durch die Tafeln angewiesen, der Anteil der Rentner hat sich in den letzten zehn Jahren fast verdoppelt. Viele scheuen den Gang und das damit verbundene Eingeständnis.

 Andreas Sommer, ehrenamtlicher Mitarbeiter der Kaarster Tafel, stellt für jeden Besucher, soweit möglich, ein passendes Körbchen zusammen.

Andreas Sommer, ehrenamtlicher Mitarbeiter der Kaarster Tafel, stellt für jeden Besucher, soweit möglich, ein passendes Körbchen zusammen.

Foto: Andreas Bretz

Eigentlich startet die Ausgabe erst um 15 Uhr, aber wenn der Andrang groß ist, öffnet Winfried Runde die Türen zur Tafel im Pfarrzentrum St. Martinus auch schon mal eine Viertelstunde eher, "bevor die Leute bis draußen stehen müssen". In der Schlange, die sich an Rundes kleinem Schreibtisch gebildet hat, ist mindestens jeder Dritte im Rentenalter. Dieser Trend setzt sich seit Jahren fort, vor allem Witwen und Alleinstehende kommen mit dem Geld oft nicht aus. Runde organisiert, zusammen mit Hans Ferch und vier weiteren ehrenamtlichen Mitarbeitern, die Kaarster Zweigstelle der Neusser Tafel.

"Man muss vielen Mut machen"

Hans Ferch war es, der vor zwei Jahren mit der Lebensmittelausgabe in Kaarst begann. Dass immer mehr Rentner zur Tafel kommen, ist für ihn nur die Spitze des Eisbergs: "Man müsste viel mehr alten Menschen Mut machen, den Gang zur Tafel zu wagen." Obwohl er die Zahl der Rentner, die in Kaarst zur Lebensmittelausgabe kommen, auf 50 Prozent schätzt, ist er sich sicher, dass der tatsächliche Bedarf noch viel höher sei. "Viele trauen sich nicht, hier zur Kirche zu kommen, wo viele bekannte Menschen sind."

Die steigende Zahl an Rentnern ist auch Rebecca Schuh, Vorsitzende und Gründerin der Neusser Tafel, nicht entgangen. Für sie fing diese Entwicklung schon mit dem Umstieg auf den Euro an. "Wenn damals jemand 1800 Mark Rente hatte, bekam er danach nur noch 900 Euro. Bei 600 Euro Miete bleibt zum Leben nichts mehr übrig. Die Politik schweigt dieses Thema seit Jahren tot", regt sich Schuh auf. Die Neusser Tafel versorge rund 150 Haushalte jede Woche, das seien etwa 500 Personen, erklärt Schuh. "Locker 50 Prozent sind Rentner", sagt auch sie.

350.000 Menschen insgesamt

Damit liegt die Neusser Tafel über dem Bundesdurchschnitt, den Jochen Brühl, Vorsitzender der Tafel Deutschland, mit 23 Prozent angibt. "Die Zahl der Rentner, die Tafeln aufsuchen, steigt. Im Jahr 2007 waren es knapp zwölf Prozent. Heute ist fast jeder vierte Tafelkunde Rentner, etwa 350.000 Menschen insgesamt."

Weil es in Neuss in der Vergangenheit wegen des hohen Andrangs immer mal wieder Ärger gab, wurde ein Punktesystem eingeführt. "Wir hatten einige Schlägereien, so dass wir die Polizei rufen mussten", sagt Rebecca Schuh. Jeder Kunde bekommt daher einen blauen, grünen oder roten Punkt zugewiesen, dieser steht für eine bestimmte Uhrzeit, zu der Lebensmittel abgeholt werden können. Über das Jahr hinweg rotieren die drei Gruppen, "So kommt jeder mal als Erstes dran", erklärt Schuh. Über Ärger mit Kunden kann Winfried Runde in Kaarst allerdings nicht klagen: "Hier geht alles sehr ruhig zu. Alle sind freundlich und dankbar."

Probleme mit bestimmten Kundengruppen kann auch Claudia Manousek bestätigen. Sie ist die Vorsitzende des Landesverbands der Tafeln in NRW und bei der Dormagener Tafel tätig. "Unangemessenes Verhalten kommt bei allen Nationalitäten und in allen Altersstufen vor", sagt sie. Vielen ausländischen Kunden fehle jedoch das Verständnis für den Begriff "Ehrenamt" und den Aufbau der Tafel. Dies habe gerade in der Vergangenheit viel Geduld und Erklärungen erfordert. Das gleiche Problem habe es aber auch schon 2006/2007 mit dem Zustrom der Russland-Deutschen gegeben. "Auch hier hatte sich die Lage nach einiger Zeit wesentlich verbessert", sagt Manousek.

Vorwurf gegen Neusser Tafel

Aktuell muss sich die Neusser Tafel gegen den Vorwurf der Scheinheiligkeit von Seiten der AfD wehren. Die Partei wollte 420 Euro an die Tafel spenden. Die Führung unter Rebecca Schuh habe sich daraufhin beraten und die Spende einstimmig abgelehnt. Das Parteiprogramm der AfD stimme nicht mit den Werten der Tafel überein. "Es kommt eigentlich so gut wie nie vor, dass eine Partei überhaupt an die Tafel spendet", sagt Schuh.

(cha)
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