Ein Jahr nach dem Germanwings-Absturz Flug 4U 9525 - die Trauer endet nie

Düsseldorf · Heute vor einem Jahr ließ Copilot Andreas Lubitz einen Germanwings-Airbus in den französischen Alpen zerschellen. Der Schock bei Hinterbliebenen und Helfern wirkt bis heute nach.

Absturz des Germanwings Airbus
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Foto: Laurent Cipriani

Es ist kurz vor zehn Uhr morgens am 24. März 2015. Lea und Elena freuen sich schon darauf, ihre Eltern wiederzusehen. Die Mädchen, 15 und 16 Jahre alt, haben ihren Familien viel zu erzählen. Von Llinars del Vallès, der spanischen Klein-stadt in der Nähe von Barcelona, in der sie die vergangenen Tage bei Gastfamilien verbracht haben. Noch wenige Stunden, dann sind sie wieder zu Hause in Haltern am See und können von ihrem Schüleraustausch berichten. Noch sitzen die beiden mit 14 Klassenkameraden des Joseph-König-Gymnasiums und zwei Lehrerinnen an Bord des Airbus A320 auf dem Rollfeld des Flughafens in Barcelona. Eigentlich hätte die Germanwings-Maschine seit knapp einer halben Stunde in der Luft sein sollen. Aber es hat diverse Verzögerungen gegeben. Im Flieger befinden sich 150 Personen. Um 10.01 Uhr gibt der Kapitän an Bord, der die Maschine steuert, das Startsignal. Neben ihm sitzt sein Copilot Andreas Lubitz (27).

Das letzte Gespräch

Als der Airbus in Barcelona abhebt, arbeitet Vasili Bryjak in seinem Grafikbüro in Dresden, das er erst vor vier Wochen eröffnet hat. Dafür ist er aus Willich an die Elbe gezogen - ein Ratschlag seines berühmten Vaters, Opernsänger Oleg Bryjak (54), der auch an Bord des Germanwings-Flugs von Barcelona nach Düsseldorf sitzt. Sein Sohn weiß davon nichts. Er nimmt an, dass sein Vater erst am nächsten Tag zurück nach Deutschland fliegen wird. Ein Missverständnis. Beide haben am Vortag über Skype miteinander telefoniert. Sie haben kurz über Olegs Gastspiel am Gran Teatre del Liceu in Barcelona gesprochen, wo er in Richard Wagners "Siegfried" gesungen hat. Gewöhnlicher Smalltalk zwischen Vater und Sohn. Es ist das letzte Mal, dass Vasili die Stimme seines Vaters gehört hat.

Nach Germanwings-Unglück: Merkel besucht Gymnasium in Haltern
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Foto: afp, RP EJ

Es ist 10.27 Uhr, die Maschine hat ihre reguläre Flughöhe erreicht. Drei Minuten später verlässt der Kapitän das Cockpit. Er muss auf die Toilette. Andreas Lubitz, der nun alleine ist, stellt den Autopiloten auf Sinkflug und verriegelt die Tür zum Cockpit. Der Kapitän versucht vergeblich, die Tür aufzubrechen. Um 10.41 Uhr reißt der Funkverkehr zum französischen Kontrollzentrum ab. Die Maschine verschwindet vom Radar und stürzt in den Alpen ab. Alle 150 Personen an Bord sterben, 72 davon aus Deutschland, die meisten aus Nordrhein-Westfalen, 51 aus Spanien.

Heute, am ersten Jahrestag der Katastrophe, läuten in Haltern am See die Kirchenglocken. Die Germanwings-Muttergesellschaft Lufthansa organisiert für Angehörige den Besuch an der Absturzstelle. Es gibt eine Gedenkfeier. Man rechnet mit 1000 Hinterbliebenen, Verwandten und Freunden der Opfer.

Der Leiter des Joseph-König-Gymnasiums erinnert sich gut an die Minuten, Stunden und Tage nach dem Unglück; es sind die schwersten seines Lebens. Ulrich Wessel befindet sich, als die Maschine abstürzt, auf einer Schulleiterkonferenz, etwa 30 Kilometer von Haltern am See entfernt. Gegen 11.30 Uhr bekommt er eine Mitteilung über Whatsapp von seiner Sekretärin. Er solle sofort nach Haltern zurückkehren. Es sei etwas Schreckliches passiert. Wessel verlässt die Sitzung, ruft in seiner Schule an, fragt, was los sei. Man sagt ihm, das Flugzeug mit seinen Schülern an Bord sei womöglich abgestürzt. Aber sicher sei das nicht. Bislang gebe es keine Bestätigung. Wessel geht ins Internet, schaut nach, ob es noch mehr Flüge an diesem Morgen von Barcelona nach Düsseldorf gibt. Schnell hat er Klarheit. Es gibt nur den einen Flug. Er setzt sich ins Auto und rast nach Haltern.

Währenddessen spricht Vasili Bryjak in seinem Dresdner Büro mit einem Kunden. Er blickt immer wieder auf sein Handy, weil es mehrfach vibriert. Auf seinem Computerbildschirm läuft eine Nachricht über den Absturz. "Ich war mir zu 100 Prozent sicher, dass mein Vater nicht an Bord war, weil ich ja annahm, dass er erst am 25. fliegen wird", erinnert er sich später an diesen Moment. Dann nimmt er sein Handy und liest die vielen Nachrichten, die er erhalten hat. Er ruft seine Mutter an, die am Flughafen in Düsseldorf ist, um ihren Mann abzuholen. Vasili weiß nun, dass er sich getäuscht hat und sein Vater nicht erst am nächsten Tag zurückfliegen wird.

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Germanwings-Opfer kommen heim

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Foto: ap

Als Schulleiter Wessel in Haltern eintrifft, herrscht längst Aufregung. Die Nachricht vom Absturz hat sich schnell herumgesprochen. Aber immer noch weiß niemand, ob die Zehntklässler auch wirklich an Bord gewesen sind. Besorgte Eltern sind zum Gymnasium geeilt. Sie haben aus den Medien erfahren, dass die Maschine nicht zum vereinbarten Zeitpunkt gelandet ist. Manche sind auch direkt nach Düsseldorf zum Flughafen gefahren.

"Ihre Handys waren tot"

Es ist bereits halb eins am Mittag, und noch immer wissen die Eltern nicht mit Bestimmtheit über das Schicksal ihrer Kinder Bescheid. Einige klammern sich noch an die Hoffnung, dass ihre Tochter oder ihr Sohn nicht unter den Toten ist. "Wir konnten es aber fühlen und wussten es im Grunde auch, weil wir von unseren Kindern keine SMS, keinen Anruf, keine Mail, nicht das geringste Lebenszeichen erhalten haben. Ihre Handys waren tot", wird später ein betroffenes Elternteil sagen.

Wessel versucht in diesen Minuten alles, um den Angehörigen Gewissheit zu verschaffen. Doch weder bei der Fluggesellschaft noch bei der Bundespolizei am Flughafen sagen sie ihm etwas über den Verbleib von Flug 4U 9525. Er bittet einen Bundesgrenzschutzbeamten am Telefon, ihm Auskunft zu geben. Vor ihm säßen weinende Mütter und Väter, die fragen, was mit ihren Kindern sei, fleht er - vergeblich. Dann klingelt plötzlich sein Handy. NRW-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (SPD) ruft an. Sie sagt, sie habe die Passagierliste. Die sei aber nicht alphabetisch geordnet. Wessel überlegt einen Moment. Alle Schülernamen abzugleichen, dauere womöglich zu lange. Darum nennt er nur die Namen der beiden Lehrerinnen. Kraft bestätigt, sie stünden beide auf der Liste. Wessel weiß damit definitiv, dass alle Schüler an Bord gewesen sein müssen. Er geht in den Raum, in dem die Eltern warten, und verkündet die traurige Nachricht. Noch nie habe er in so viele verzweifelte Augen gesehen wie in diesem Moment. Als er aus dem Fenster nach draußen blickt, sieht er schon die ersten Übertragungswagen der TV-Sender.

Am Düsseldorfer Flughafen werden Angehörige und Freunde der Opfer von Notfallseelsorgern betreut und in einen geschützten Raum gebracht, abgeschirmt von den Medien. Ein Krisenstab tritt zusammen. Rund zehn Kilometer entfernt ist in der Leitstelle der Düsseldorfer Feuerwehr gerade ein "Konzept zur psychosozialen Notfallversorgung bei Großschadenslagen" unterschrieben worden. Die Unterzeichner, darunter Hilfsorganisationen wie Rotes Kreuz, Technisches Hilfswerk und Weißer Ring, stellen sich zum Abschluss zu einem Gruppenfoto zusammen. Als sie fertig sind, kommt die Nachricht vom Flugzeugabsturz, einer sogenannten Großschadenslage. Notfallpsychologin Sabine Rau, die an der Tagung teilgenommen hat, wird gebeten, sofort in die Leitstelle zu kommen. Sie soll zum Flughafen fahren. Da werde sie jetzt dringend benötigt.

Vasili Bryjak schließt sein Grafikbüro in Dresden und fährt zu seiner Mutter nach Düsseldorf, um ihr beizustehen. Oleg Bryjak ist seit der Spielzeit 1996/97 festes Mitglied im Ensemble der Deutschen Oper am Rhein gewesen, hat Gastspiele auf der ganzen Welt gegeben. Wenige Monate vor dem Absturz feiert er noch sein Debüt bei den Bayreuther Festspielen als Alberich im Ring des Nibelungen. Diese Rolle sollte er auch 2015 spielen. Für Vasili ist er Freund und Vater zugleich gewesen, auch wenn sich beide erst in den letzten Jahren vor dem Absturz nähergekommen sind, weil für Oleg Bryjak zuvor seine Karriere im Vordergrund gestanden habe, nicht seine Familie. Er sei wenig zu Hause gewesen, berichtet Vasili. Viele Jahre haben beide keinen wirklichen Kontakt miteinander.

Am Düsseldorfer Flughafen übernimmt Sabine Rau die Leitung der psychosozialen Notfallversorgung. Als sie den Raum am Airport, in dem sich die Angehörigen aufhalten, betritt, lässt sie die Situation auf sich wirken, verschafft sich einen Überblick. Die Notfallpsychologin erklärt, dass die Betroffenen in solchen Fällen niemanden brauchen, der sich ihnen aufdrängt. "Sie wollen zunächst nur wissen, was passiert ist. Um nichts anderes geht es am Anfang", sagt Rau. "Sie wollen das Unbegreifliche, das eigentlich nicht zu fassen ist, irgendwie begreifen", erklärt sie. Rau versucht es den Eltern, Geschwistern, Großeltern, Tanten, Onkel, all den Angehörigen der Opfer, zu erklären, wenn sie danach gefragt wird. Und das wird sie sehr oft.

Niemand ahnte das Verbrechen

Zu diesem frühen Zeitpunkt ahnt noch niemand, dass der Copilot die Maschine absichtlich zum Absturz gebracht hat. Das, was die französische Staatsanwaltschaft in den Tagen, Wochen und Monaten nach der Katastrophe bekanntgeben wird, ist für die Angehörigen unerträglich. Lubitz, der in Düsseldorf gelebt hat, ist nach Erkenntnissen der Ermittler psychisch krank und bei mehreren Ärzten in Behandlung gewesen. Er litt unter Depressionen und suchte im Internet nach Suizid-Möglichkeiten. Nach einem Bericht der französischen Untersuchungsbehörde BEA ist bei ihm nur zwei Wochen vor der Katastrophe eine mögliche Psychose diagnostiziert worden - eine schwere Störung mit zeitweiligem weitgehenden Verlust des Realitätsbezugs. Der Arzt empfiehlt eine Einweisung in ein psychiatrisches Krankenhaus. Doch dazu kommt es nicht. Die BEA sagt, dass Lubitz Germanwings nicht über seine Krankschreibung informiert hat "Weder die Behörden noch der Arbeitgeber waren vom Copiloten selbst oder von einer anderen Person, zum Beispiel einem Arzt, Kollegen oder einem Familienangehörigen, informiert worden", heißt es in dem Bericht. Der Copilot habe vermutlich auch finanzielle Einbußen befürchtet für den Fall, dass er seine Piloten-Lizenz verlieren würde.

Knapp vier Wochen nach dem Absturz läuten in Haltern die Todesglocken für Lea. Sie ist ein beliebtes Mädchen gewesen. Dazu ein hübsches, ein kluges und musikalisches. Sie hat unter Anleitung eines Autors gemeinsam mit Mitschülern ein Buch über die Auswirkungen von Alkohol- und Drogenmissbrauch herausgegeben. Sie hat im Chor gesungen und Badminton gespielt. Mit ihrem Bruder Henrik (19) hat sie sich besonders gut verstanden. Er möchte so kurz vor dem Jahrestag nicht mehr über seine Schwester sprechen, sagt Leas Mutter. In einem Interview, das er ein halbes Jahr nach der Katastrophe der "New York Times" gegeben hat, erinnert er sich mit Wehmut, wie Lea am Klavier selbst komponierte Balladen gespielt und dazu gesungen hat. Nach ihrem Tod will er ihre Stimme noch einmal hören. Er spielt alte Aufnahmen von ihr ab, die er auf einem alten Handy von ihr findet. Angehörige und Freunde haben in der Kapelle ein Bild von ihr aufgestellt, auf dem sie lächelt. Ihr Vater schreibt in die Traueranzeige: "Du bist das Schönste, was mir im Leben passiert ist. Ich bin stolz, dich 15 Jahre erlebt haben zu dürfen. Breite jetzt deine Flügel über uns aus."

Trauerflor

In der knapp 39.000-Einwohner-Stadt Haltern hängen ein Jahr nach der Katastrophe an den Ortseinfahrtschildern noch schwarze Trauerflorbänder. Den Eltern der 16 Schüler gehe es unterschiedlich gut oder schlecht, sagt Annette Bleß. Sie hat ihre Tochter Elena (15) bei der Katastrophe verloren, die einen Tag später ihren 16. Geburtstag gefeiert hätte. Ulrich Wessel versucht, den öffentlichen Fokus von seiner Schule und der Stadt zu lenken. "Es gibt so viele Opfer und nicht nur die 18 in Haltern." Notfallpsychologin Sabine Rau meint, es sei für die Angehörigen nichts mehr, wie es mal war. Ihr Leben habe sich auf eine zu drastische Art und Weise verändert. "Das Leben anders weiterzuleben, erfordert viel Kraft. Ich habe großen Respekt vor der Aufgabe, die die Menschen ungefragt bewältigen müssen", betont Rau. Sie habe viele tolle Menschen kennengelernt, die in dieser Situation eine beeindruckende Stärke gezeigt und trotz eigenem Verlust noch ein offenes Herz für andere gezeigt haben. Rau weiß, dass es so kurz vor dem Jahrestag vielen nicht gut gehen wird.

Annette Bleß findet Kraft im christlichen Glauben. Ihre Trauer hat sie auch in einem Buch über die Katastrophe, für das sie das Vorwort geschrieben hat, verarbeitet. Die Behörden haben ihr einige Gegenstände ihrer Tochter zurückgegeben, die am Absturzort gefunden worden sind. Ihren Pass zum Beispiel. Und Kleidungsstücke. Und ihr Portemonnaie. Annette Bleß sagt, dass sie und die anderen Eltern lange Zeit nicht arbeiten konnten. Es sei nicht so, dass bei den Betroffenen die Trauer jetzt schon erträglicher geworden wäre. Es sei nach wie vor sehr schwer, und gerade jetzt zum Jahrestag hin sei es besonders belastend.

"Ich wünsche den Eltern, dass sie den Frieden finden, den sie brauchen, um mit dieser unglaublichen Trauer und dem Schmerz umzugehen. Dass sie für sich einen Weg finden, der das alles erträglicher werden lässt", sagt Halterns Bürgermeister Bodo Klimpel. Normalität - so wie früher - könne es nach solch einem schrecklichen Ereignis aber wohl für keinen geben. Eine Einschätzung, die auch Schulleiter Ulrich Wessel teilt. Zwar, meint er, herrsche auf den Gängen und Fluren seines Gymnasiums eine scheinbare Unbefangenheit. Schaue man aber genauer hin, so stelle man fest, dass das nur eine oberflächliche Gelassenheit sei. "Besonders bei den älteren Schülern, die die Toten kannten, spüre ich nach wie vor eine tiefe Trauer", sagt er. Aber es sind nicht nur seine Schüler, die die Tragödie nicht verarbeitet haben. Auch Wessel selbst leidet. "Aber es geht hier nicht um mich, sondern um die Angehörigen", sagt er, wenn man ihn auf seine Gefühle anspricht. Die Bilder von der Beisetzung, von der tiefen Trauer, holen ihn jetzt zum Jahrestag wieder ein. Anfang Mai wird Wessel mit einigen Schülern nach Frankreich fahren und zur schwer zugänglichen Unglücksstelle wandern. Er hofft, dass das Unfassbare dadurch vielleicht ein wenig fassbarer wird.

(csh)
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