Übergriffe auf Frauen Silvesternacht in Köln - ein sicherheitspolitischer Tiefpunkt

Köln · Die Ausschreitungen in der Silvesternacht am Kölner Hauptbahnhof haben das Land verändert. Noch sind die Hintergründe des Desasters nicht vollständig geklärt. Vor allem eine Frage nicht: Wäre das Drama zu verhindern gewesen?

Chronik der Übergriffe in Köln: Die Ereignisse rund um die Silvesternacht
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Die Ereignisse rund um die Silvesternacht in Köln

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Foto: dpa/Markus Boehm

Es sind noch etwa vier Stunden bis Mitternacht, als Baris Olsun am 31. Dezember 2015 ein Video, das er soeben mit seinem Handy am Kölner Hauptbahnhof gemacht hat, auf Youtube hochlädt. Die Filmsequenz nennt er "Silvester 2016 am Kölner Dom (Krieg)". Die Aufnahme zeigt den Vorplatz des Hauptbahnhofs, der minütlich voller wird. Mitten in der Menge werden Feuerwerksraketen gezündet. Man hört Böller krachen, die zum Teil absichtlich auf Menschen geworfen werden. Die Treppe, die vom Vorplatz zum Dom hochführt, ist bereits voller grölender junger Männer. An ihnen müssen alle vorbei, die zum Feiern in die Innenstadt wollen. Polizisten sieht man nicht. Als Baris Olsun nach zwölf Minuten seine Aufnahme beendet, weiß er noch nicht, dass er den Beginn einer Silvesternacht gefilmt hat, die Deutschland verändern und weltweit für Schlagzeilen sorgen wird.

Rund um den Kölner Hauptbahnhof sind in dieser Nacht Hunderte Frauen drangsaliert, ausgeraubt und sexuell belästigt worden. Auch von Vergewaltigungen war später die Rede. Rund 1200 Anzeigen liegen vor, davon etwa 500 wegen Sexualdelikten. Die erste Anzeige wurde bereits am 31. Dezember um 21.41 Uhr wegen Taschendiebstahls am Bahnhofsvorplatz erstattet.

"Die greifen mir unter das Kleid, und die Polizei macht gar nichts"

Stunden dauerte das Chaos an, das die Polizei nicht verhindern konnte, obwohl zahlreiche Notrufe hilfesuchender Menschen bei ihr eingegangen waren. "Die greifen mir unter das Kleid, und die Polizei macht gar nichts", sagte eine Betroffene am Telefon der Polizei. Eine andere erklärte: "Wir sind gerade in Köln am Hauptbahnhof durch den Eingang gelaufen. Und da stehen lauter Leute, und wenn man da durchläuft, dann begrapschen die einen und langen einem unters Kleid — aber so richtig. Die ziehen einen mit und lassen einen nicht los." Einige Anrufer forderten, dass endlich Polizei kommen solle: "Am Bahnhofsvorplatz werfen Menschen gegenseitig Böller aufeinander. Hier wird wild durch die Gegend geschmissen. Auch auf Passanten und Mütter mit Kinderwagen. Ich glaub', hier müssen Sie mal ein paar Beamte hinschicken."

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Wie konnte es zu diesem sicherheitspolitischen Tiefpunkt kommen, mit dem sogar Donald Trump im US-Wahlkampf gegen Ausländer hetzte? Und von dem Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) im Rückblick sagt: "Vielleicht war das ein Wendepunkt in der Debatte um Flüchtlinge in Deutschland."

In vier Monaten wird der Parlamentarische Untersuchungsausschuss (PUA) im Düsseldorfer Landtag, der seit fast einem Jahr die Hintergründe des Kölner Desasters aufarbeitet, seinen Abschlussbericht vorlegen. Eine Erkenntnis könnte sein: Wenn die Sicherheitsverantwortlichen des Landes im Vorfeld genauer hingehört hätten, wäre das Drama in Köln vielleicht zu verhindern gewesen. Denn schon lange vor dem Kölner Desaster gab es sehr konkrete Hinweise auf das wachsende Gewaltpotenzial, das in Deutschland insbesondere von Migranten aus Nordafrika ausgeht.

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Wie ein Cassandra-Ruf wirkt im Rückblick zum Beispiel der Brandbrief eines Polizisten aus der Düsseldorfer Altstadtwache. Auf mehreren Seiten berichtete er schon im November 2008 von "höchster Aggression und Gewaltbereitschaft", einem "auffällig hohen Anteil an Jugendlichen und Heranwachsenden größtenteils marokkanischer und türkischer Abstammung".

Die Problemlage wuchs

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Foto: dpa/Antonis Nikolopoulos

Mit den politischen Verwerfungen in Nordafrika wuchs danach die Gruppe der von dort nach Deutschland Einwandernden um ein Vielfaches — und damit auch die Problemlage. Im Januar 2013 begann das Polizeipräsidium Köln mit der systematischen Auswertung von Straftaten nordafrikanischer Täter. Schon bald dokumentierte das Projekt Daten zu mehr als 21.000 Straftaten, begangen von 17.000 Personen nordafrikanischer Herkunft. 3800 davon hatten ihren Wohnsitz oder anderweitige Adressen in Köln oder im benachbarten Leverkusen.

Im Juni 2014 begann auch das Düsseldorfer Präsidium mit einem ähnlichen Projekt und dokumentierte 4300 Straftaten von 2200 Nordafrikanern. In Polizeikreisen etablierte sich der Begriff "Nafri-Täter". In Köln spezialisierte sich zu dieser Zeit eine 40-köpfige Gruppe von Zivilpolizisten auf die Bekämpfung der Kriminalität durch diese Personengruppe. Inoffiziell. Weil die polizeiliche Ausrichtung auf spezielle Nationalitäten damals noch als politisch angreifbar galt, wie Beteiligte sich erinnern.

Im April 2015 brachte die Opposition in NRW das "Nafri"-Problem bei einem Flüchtlingsgipfel auch vor NRW-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (SPD) zur Sprache. Im Juni 2015 widmete sich ein Bericht des Innenministeriums dem sogenannten Antanzen: Innenminister Ralf Jäger (SPD) stellte fest, dass marokkanische und algerische Tatverdächtige die größte Gruppe innerhalb dieser für deutsche Behörden neuen Kriminalitätsform bilden, bei der die Täter ihre Opfer zunächst scheinbar im Spaß ansprechen, um sie dann bei zunehmender Aggressivität zu bestehlen. In einem 43-seitigen Verschlusssache-Papier der Bund-Ländergruppe "Silvester" unter Federführung des Bundeskriminalamtes heißt es: "Ein stark beeinflussender Faktor dürfte in der Wahrnehmung der Täter bestanden haben, dass sie offenbar weitgehend keine nachhaltig negative Strafverfolgung zu befürchten hatten."

Der designierte Fraktionschef der FDP im Landtag, Joachim Stamp, sagt im Rückblick: "Die Silvesterübergriffe resultieren auch aus einer Fehleinschätzung Jägers, der vielfältige Warnungen vor der Problemgruppe alleinreisendender Männer aus Nordafrika nicht ernstgenommen hat." Warum diese Tätergruppe trotz der vielen Warnungen offensichtlich auch in der Silvesternacht 2015/16 noch unterschätzt wurde, ist eine von vielen Ungereimtheiten, die ein Jahr nach den Vorfällen noch immer im Raum stehen.

Bis zum Abschlussbericht im April wird der PUA unter der Leitung des erfahrenen Unionspolitikers Peter Biesenbach 179 Zeugen verhört und fast 1000 Dateiordner mit je bis zu 500 Seiten Text ausgewertet haben. Klar herausgearbeitet worden ist bereits das beispiellose Versagen der Kölner Polizei.

179 Zeugen und fast 1000 Dateiordner

So stellte sich heraus, dass am Silvesterabend um 20.40 Uhr der Polizeiführer der Spätschicht auf dem Weg zur Arbeit am Bahnhofsvorplatz vorbeikam. Er sah 400 bis 500 angetrunkene Nordafrikaner und hatte Bedenken, ob das gut gehen würde. Er schickte deshalb den Streifendienst vorbei. Dieser meldete zurück, dass man angesichts der Menge der Problempersonen nichts machen könnte. Eigentlich hätte spätestens zu diesem Zeitpunkt massive Verstärkung angefordert werden müssen. Wurde sie aber nicht. Die massenhaften Übergriffe auf Frauen wurden nach Ansicht eines Gutachters erst durch das späte Eingreifen der Polizei begünstigt.

Die Täter hätten den Bereich um den Kölner Dom stundenlang als rechtsfreien Raum erlebt, schreibt Rechtspsychologe Professor Rudolf Egg in einem Gutachten für den Untersuchungsausschuss. Ein möglichst rasches Eingreifen der Polizei wäre erforderlich gewesen, um die Vielzahl an Taten einzudämmen. Die Räumung des Platzes kurz vor Mitternacht sei vermutlich deutlich zu spät erfolgt und habe keine nennenswert abschreckende Wirkung mehr entfaltet. Ein großer Teil auch der Sexualstraftaten habe sich bereits zwischen 20.30 und 23.35 Uhr ereignet, so Egg.

Neben den Ärger über das Staatsversagen in jener Nacht tritt das Unverständnis über das Staatsversagen danach: Tagelang war die gesamte Landesregierung nach der Chaos-Nacht auf Tauchstation, weil sie bis zum 4. Januar das Ausmaß der Kölner Krawalle gar nicht wahrgenommen haben will. Obwohl am 1. Januar bereits über 200 Strafanzeigen bei den Polizeibehörden vorlagen und die Schlagzeilen zur Silvesternacht sich in den Online-Medien längst überschlugen.

Jäger selbst will erst durch die Ministerpräsidentin, die im Urlaub war, in einem Telefonat am 4. Januar um 13.41 Uhr auf das Thema aufmerksam gemacht worden sein, wie er als Zeuge im PUA ausgesagt hat. Kraft wiederum will das Thema erstmals in einer vereinzelten Zeitungsmeldung auf der hinteren Seite ihres 68-seitigen Pressespiegels gesehen haben. Jäger stellte das im PUA so dar: "Dann rief sie mich an und fragte, was da los war. Danach habe ich mich erst mal selbst informieren müssen." Keine 20 Minuten später gab der inzwischen geschasste Kölner Polizeichef Albers aber schon die erste Pressekonferenz.

Ist es tatsächlich möglich, dass der Innenminister und die Ministerpräsidentin fast vier Tage lang nichts von einem der größten Sicherheitsskandale erfahren, den das Land je erlebt hat? Und wenn ja: Wie schlecht muss eine Staatskanzlei organisiert sein, dass sie bei einem solchen historischen Ereignis nicht einmal die wichtigsten Kommunikationskanäle des Landes gewährleisten kann?
Nicht nur die Opposition im Landtag glaubt an einen anderen Hintergrund. Im Raum steht der Vorwurf, Kraft und Jäger hätten sehr wohl schon früher von dem Drama erfahren, dann aber nicht reagiert. Sei es, weil sie unfähig waren, es einzuordnen. Oder weil sie hofften, sich selbst aus den schlimmen Schlagzeilen heraushalten zu können.

Immer und immer wieder beteuern Kraft und Jäger ihr Unwissen bis zum 4. Januar. Aber die volle Einsicht in ihre Telefondaten aus den ersten Tagen nach der Katastrophe, die genau das belegen könnten, verweigert Kraft dem PUA trotzdem. Zuletzt bot sie nach langem Ringen lediglich den Obleuten eine teilanonymisierte Einsicht an. Ganz zurückhalten will die Landesregierung hingegen verschiedene Dokumente aus diesen Tagen, mit denen die Opposition nachweisen will, dass Kraft über ihr Verhalten in den ersten Tagen nach Silvester nicht die ganze Wahrheit sagt. Die Landesregierung beruft sich auf ihr Recht zur Geheimhaltung. Die angeforderten Dokumente unterlägen dem internen Regierungshandeln und seien deshalb zu schützen. Außerdem sei Kraft nicht nur Ministerpräsidentin, sondern auch eine ganz normale Bürgerin mit entsprechendem Recht auf Privatsphäre, die sich etwa auf persönliche Neujahrstelefonate erstrecke.

Niemand übernimmt politische Verantwortung

Zu den größten Belastungen für die Opfer gehört, dass bis heute niemand politische Verantwortung für das Debakel übernehmen will. Immerhin landeten schon Täter vor Gericht. In etlichen Verfahren ging es aber nicht um sexuelle Übergriffe, sondern um Diebstahl von Handys und Kameras. Der erste "Silvesternacht-Prozess" fand sechs Wochen nach den Geschehnissen statt. Der Staat wollte demonstrieren, dass den Tätern schnell der Prozess gemacht wird. Wegen Diebstahls und Drogenbesitzes wurde ein 23-jähriger Marokkaner zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten zur Bewährung und einer Geldstrafe von 20 Tagessätzen zu je fünf Euro verurteilt.

Doch schon kurz nach dem ersten Verfahren machte sich in der Öffentlichkeit Ernüchterung breit, weil sich herausstellte, dass es unmöglich sein wird, den Tätern — bis auf wenige Ausnahmen — ihre Vergehen nachzuweisen. Ein Grund dafür ist auch, dass die Straftäter der Kölner Silvesternacht keine organisierten Kriminellen gewesen sind. Ein höherer Organisationsgrad mit Anführern und festen Gefolgsleuten lasse sich nicht erkennen, so Gutachter Egg. Vielmehr sei davon auszugehen, dass sich mehr und mehr Täter im Schutze der Nacht ermutigt fühlten, Frauen sexuell zu belästigen und auszurauben, weil es offensichtlich keine Folgen hatte.

Weil die Gerichte offenbar wenige Möglichkeiten zur Aufklärung haben, ist der PUA inzwischen zum eigentlichen Hoffnungsträger der Opfer geworden. Als Glücksgriff erweist sich für die Opfer in diesem Zusammenhang der Unionspolitiker Peter Biesenbach, der sich so gut wie keine Verfahrensfehler erlaubt. Der Jurist vermeidet alles, was den PUA nach einem Instrument des bevorstehenden Wahlkampfes in NRW aussehen lassen könnte.

Was er natürlich trotzdem ist. "Chefanklägerin" Ina Scharrenbach, Obfrau der CDU im PUA und bei den Regierungsparteien wegen ihrer akribischen Vorbereitung auch auf die nebensächlichsten Sitzungen inzwischen gefürchtet, hat einen für die Landesregierung unter Umständen brandgefährlichen Schachzug ersonnen: Sie will die Einsicht in von der Regierung bislang geheim gehaltene Unterlagen parallel zum PUA nun auch vor dem Landesverfassungsgericht einklagen. Mit diesen Unterlagen will Scharrenbach dann aufklären, ob die Landesregierung wirklich die Wahrheit sagt oder nicht doch schon viel früher als zugegeben über das Debakel von Köln informiert war. Sollte ihr dieser Nachweis noch vorher gelingen, könnte Scharrenbach damit sogar die Landtagswahl im Mai 2017 entscheiden.

Einen solchen Glaubwürdigkeitsverlust, sagen die meisten Beobachter, würden Kraft und Jäger politisch nicht überleben.

(RP)
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